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Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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trugen, sollten mit den Hausfahnen der Familie Koschkin umkleidet werden.
    Heute, am 14. Dezember 1825, kniete die Schneiderin Praskowja Philipowna vor Ninotschka, steckte hier eine Falte ab, änderte dort einen Spitzenwurf und bewunderte die schöne Braut.
    Praskowja war eine ältere Frau mit einem breiten, gutmütigen Gesicht. Sie trug die einfache Kleidung der städtischen Handwerker, aber das täuschte. Ihr Schneideratelier galt als das beste von Petersburg. »Welch eine Zeit«, sagte Praskowja jetzt. »Der gute Zar Alexander – Gott nehme ihn ins Paradies – ist in Taganrog gestorben. Der Großfürst Konstantin soll nun Zar werden, aber da kommt sein jüngerer Bruder Nikolaus und will auch Zar werden.« Sie legte das Nadelkissen auf den Teppich und sah zu Ninotschka auf, die sich vor dem goldgerahmten Spiegel drehte. Ein sorgloses Prinzeßchen, das ihr Kleid bewunderte und an Borja dachte, an seine zärtlichen Worte, seine streichelnden Hände, seine leidenschaftlichen Küsse.
    »Es soll einen Aufstand geben«, fuhr Praskowja fort. »Eine richtige Revolution. Oh, man hört viel, wenn man Schneiderin ist. Ein Geheimbund soll gegründet worden sein, eine Versammlung großer, bekannter Männer, Fürsten und Generäle. Und wissen Sie, was sie sagen: ›Jetzt ist es Zeit, loszuschlagen! Es lebe die Idee der Freiheit! Es lebe Menschenrecht und Menschenwürde, wie sie der Franzose Rousseau in seinen Schriften gefordert hat.‹ Können Sie sich vorstellen, Hochwohlgeboren, daß man Hunderttausende von Leibeigenen freiläßt und ihnen Bürgerrechte gibt?«
    Ninotschka drehte sich um sich selbst. Der weite Rock ihres halbfertigen Hochzeitskleides flog um ihren Körper. »Ich verstehe nichts von Politik, Praskowja. Ich heirate …«
    »Man sagt, die Verschwörer nennen sich Dekabristen – also ›Dezembermänner‹. Das hat etwas zu bedeuten, Hochwohlgeboren.« Praskowja erhob sich und strich sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir haben Dezember … Bei allen Heiligen, es wird etwas geschehen in diesen Tagen! Fragen Sie Seine Gnaden, Leutnant Tugai, was er gehört hat.«
    »Borja Stepanowitsch weiß nichts von einer Verschwörung.« Ninotschka setzte sich in einen breiten, mit Damast bezogenen Sessel. »Er hätte es mir sofort gesagt und meinem Vater auch. Alles nur Gerede, Praskowja. Der Streit der beiden Großfürsten um den Thron ist ein guter Nährboden für Gerüchte. Ob Nikolaus Zar wird oder Konstantin – was ändert das schon in Rußland!«
    »Konstantin soll ein Schwächling sein und Nikolaus ein gestrenger Herr. Aber keiner wird so sein wie der tote Alexander I.«
    »Kümmert's uns, Praskowja?« Ninotschka lehnte sich zurück und lächelte. »Ich heirate. Und am zweiten Januar reise ich mit Borja nach Riga …«
    Um die gleiche Zeit marschierten Tausende von Soldatenstiefeln durch St. Petersburg zur Admiralität und zum Winterpalast. Von allen Seiten kamen sie heran, umjubelt vom Volk, und rückten in geordneten Formationen zum Senatsplatz. Fahnen knatterten im Wind, die bunten Uniformen leuchteten in der kalten Wintersonne, Zeitungsjungen rannten durch die Straßen, schwenkten Sonderdrucke und schrien: »Das Manifest! Das Manifest!«
    Die Blätter wurden ihnen aus den Händen gerissen, der Aufruf der ›Dekabristen‹ wurde von stimmgewaltigen Bürgern vorgelesen.
    Aber gleich darauf kamen andere Jungen mit Gazetten, die den Text der Eidesformel auf den neuen Zaren Nikolaus I. veröffentlichten.
    Währenddessen marschierten die Regimenter zum Senatsplatz. Nach einem Plan, den die Verschwörer – an ihrer Spitze Fürst Trubetzkoi – ausgearbeitet hatten, sollte das Militär im Handstreich den Zaren zwingen, dem Thron zu entsagen. »Es muß sein, als wenn man einen Stein ins Wasser wirft«, hatte Trubetzkoi bei der letzten entscheidenden Versammlung erklärt, »und Welle nach Welle breitet sich die Unruhe aus. Eines der ältesten Garderegimenter muß den Anfang machen. Es wird die anderen zögernden Truppen mitreißen. Diese geballte Kraft wird ausreichen, Nikolaus und den Senat zu zwingen, unser Manifest anzunehmen und die provisorische Regierung auszurufen. Gelingt uns das nicht, dann gibt es für uns nur noch den Tod oder Sibirien.«
    Das war vor ein paar Tagen gewesen. Jetzt marschierte das Moskauer Regiment – an der Spitze der Soldaten – mit aufgepflanztem Bajonett und dröhnendem Trommelwirbel. Brach nun eine neue Zeit an? Kam über Rußland die Freiheit?
    Aber schon bald stellte es
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