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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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Begrüßung. »Alles ist verbrannt worden, restlos. Und ich hab nicht mehr von ihr geträumt. Damit ist’s nun vorbei!«
    Ich überlegte, ob ich ihr von meinem Traum erzählen sollte, hielt es aber für besser, damit zu warten.
    Die S-Bahn Richtung Spindlersfeld kam. Wir stiegen ein, und Carola meinte: »Das Erste, was wir klären müssen: Wohin gehen wir zuerst?« Ehe ich antworten konnte, fügte sie hinzu: »Nicht zu meinem Vater. Nur keine Gefühlsduseligkeit.«
    Das war mir recht. Auch wenn ihr Vater sicherlich froh sein würde, dass nicht mehr Nilowsky an der Seite seiner Tochter war.
    »Wir könnten zu Wally gehen«, schlug ich vor.
    »Ja, das dachte ich auch«, antwortete Carola.
    Hätte jemand in der S-Bahn diese beiden letzten Sätze gehört, hätte er davon ausgehen können, dass wir ein eingespieltes Paar waren. Das hätte mich freuen können. Doch es verunsicherte mich.
    Wir fuhren bis zur Endstation und liefen eine knappe halbe Stunde bis zur Erdgeschosswohnung von Wally. Zweimal lang, zweimal kurz klopfte ich an die heruntergelassene Jalousie. Die Jalousie wurde hochgezogen und das Fenster geöffnet.
    »Ach, ick dachte, Reiner … Is doch sein Klopfzeichen.« Wally war offenkundig enttäuscht, nur uns zu sehen. »Wo habt ihr ihn denn jelassen?«
    Wir hatten noch kein Wort gesagt, und schon war Reiner Thema. Ich bemühte mich, mir meine Frustration nicht anmerken zu lassen.
    »Der ist weg«, antwortete Carola bestimmt. »Für immer!«
    »Wie? Is er jestorben?« Die Frage klang ungläubig.
    »Nein«, sagte Carola. »Er ist irgendwohin. Wir wissen nicht, wohin.«
    »Na, hier is er nich«, meinte Wally. Es klang abweisend. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie daran dachte, uns ins Wohnzimmer zu lassen. »Seid mir nich böse«, sagte sie, »aber ick bin in Eile. Muss los. Muss mir nur noch ’n bisschen kämmen und schminken und denn los. Wat wollt ihr eijentlich von mir?«
    »Wir wollten nur Abschied nehmen«, antwortete Carola.
    »Wie?«, fragte Wally. »Wollt ihr etwa ooch … irgendwohin?«
    »Das wissen wir noch nicht«, sagte Carola. »Auf jeden Fall wollen wir nicht mehr hierher kommen. Das ist heute das allerletzte Mal.«
    Wally nickte nachdenklich vor sich hin, als bräuchte sie viel Zeit, um diese Mitteilung zu verarbeiten. »Wisst ihr eijentlich«, sagte sie, und ein Lächeln kam auf ihr Gesicht, »dass wir neue Afrikaner im Chemiewerk haben? Keene Mozambiquaner, nee, Mozambiquaner nich. Obwohl sie ooch so heißen: Pedro, Joaquim, sogar ’n Roberto is dabei. Aus Angola kommen sie. Is auf der andern Seite von Afrika. Luanda heißt die ihre Haupstadt. Klingt schön, nich wahr? Die meisten von ihnen haben Mutter oder Vater verloren oder alle beide. Seitdem sie hier sind, seit drei Wochen, isset vier Grad wärmer als anderswo in Berlin. Nich drei Grad wie bei den Mozambiquanern, nee, vier Grad. So heiß sind die.« Wally lachte. »Und nu ab mit euch. Aber schnell.«
    »Ja, das ist schön«, sagte Carola. Es hörte sich fast an, als spräche sie zu einem Kind, das sich ein Lob verdient hat. »Wir wünschen dir alles Gute.« Um auch etwas zu sagen, fügte ich hinzu: »Viel Glück.«
    Wir wandten uns vom Fenster ab, doch Wally hatte noch etwas auf dem Herzen: »Falls ihr zu Elli wollt … Zu der müsst ihr nich mehr gehen. Die is nämlich vor ’ner Woche jestorben. Ihr könnt euch hoffentlich vorstellen, wat ick für Angst hab. Die wird mir nachholen, so eng wie wir beede waren. Will ick aber nich. Gerade jetze, wo die Angolaner hier sind …«
    Wally stützte sich auf die Fensterbrüstung, als hätte sie einen Schwächeanfall, der schon der Vorbote des Todes war.
    »Sei nicht so abergläubig«, rief Carola. »Ziehst ja dasUnglück nur an, wenn du’s hundertprozentig erwartest.«
    Wally wich einen halben Meter von der Brüstung zurück. »Ach, kiek mal an, die Carola. Dit allerletzte Mal hier, aber noch jute Ratschläge geben. Wisst ihr eijentlich, dass der Alte vom Reiner, der versoffne Hungerhaken, nachts an seiner Kneipe vorbeischleicht? Haben mir die Säufer erzählt. Die haben ’n nämlich jesehen, wie er sein Jesicht ans Fenster jedrückt hat, ’n paarmal haben sie sein Jesicht jesehen. Als sie raus sind, war er weg. Nischt, keene Spur von ihm, wie vom Erdboden verschluckt. Jedes Mal. Und nun erzählt mir bitte nischt mehr von Aberglauben!«
    Wir liefen weiter, und ich hörte noch, wie die Jalousie hinuntergelassen wurde. Wir gingen in das stockfinstere Waldstück hinterm Chemiewerk. Die
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