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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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einem keine Ruhe … Und man kann es nicht mehr austragen mit dem, der nun fort ist, und man weiß nicht wohin …«
    Ich merkte, dass ich nicht weiterkam mit diesem Gedankengang, und hielt inne. Ich überlegte, was ich noch sagen konnte. Irgendetwas, das der Lösung des Rätsels näher käme.
    Carola stand vom Kanapee auf, kam an den Tisch, setzte sich mir gegenüber. »Danke«, sagte sie. »Das war schön, wie du das formuliert hast.«
    Mir schien, dass sie mich für meine Bemühung belohnte; und allenfalls war es diese Bemühung, mit der ich ihr ein wenig helfen konnte.
    »Ich muss dir noch was erzählen«, sagte sie und setzte zweimal an zu reden, bevor sie begann: »Vor knapp zwei Wochen ist meine Mutter gestorben. Gebärmutterhalskrebs. Ich hab nicht gewusst, dass sie Krebs hatte. Das heißt, mir wurde nie was davon gesagt. Ich bekam einen kurzen Brief von meinem Vater. Nur die Info und der Termin der Beisetzung. Ich sagte Reiner nichts von ihrem Tod, nicht mal eine Andeutung machte ich. Vielleicht wusste er dennoch was davon. Oder ahnte was. Jedenfalls sagte er Sätze wie: ›Du solltest dich um ein besseres Verhältnis zu deinen Eltern kümmern.‹ Oder: ›Du hast Anteile von deiner Mutter in dir, mehr als du denkst und mehr als dir lieb ist. So ist das nun mal mit den Anteilen, die kommen von den Genen, das hat die Natur so eingerichtet. Das hat sie.‹ Und am Vorabend seines Verschwindens sagte er: ›Dein Vater hat sicherlich Sehnsucht nach dir. Mach dir das mal klar, dass er darunter leidet, dass ihr keinen Kontakt habt. Mach dir das mal klar.‹ Ich ging nicht auf diese Bemerkungenein. Fragte mich nur: Ist er so was wie ein Hellseher? Vorgestern dann die Beisetzung. Die Urnenstelle direkt neben Onkel Antatsch. Lange Rede vom Berliner Parteihäuptling. Keine Ahnung, wie der heißt. Alter Kerl mit Alkoholikergesicht. Redete nur in Floskeln. Nichts, was ich mir hätte merken wollen. Alles vergessen. Die Anwesenden ausschließlich Parteigenossen, außer natürlich mir. Keine von den alten Frauen, die sonst bei jeder Beerdigung sind. Keine einzige. Mein Vater ein Häufchen Elend. Heulte nur, sagte kein Wort. Ich saß neben ihm, guckte ihn nicht an. Mit einem Mal rührte sich mein Zeigefinger, strich über seine Hand. Mein Vater schaute mich an. Ich spürte es. Obwohl ich seinen Blick nicht erwiderte. Spürte in seinem Blick Hilflosigkeit, Angst, Reue … Oder hab ich mir das nur eingebildet? Was geht mich das an? Weil er mein Vater ist? Blut, Gene – was bedeutet das? Und die Gefühlsschwankungen, die werden immer größer.«
    Sie fing an zu weinen. Ich schob meine Hand zu ihr über den Tisch. Carola nahm sie und drückte sie fest. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen, womit ich sie hätte trösten können. Carola atmete tief durch. »Nie mehr hatte ich auf den Friedhof gehen wollen, geschweige denn zu einer Beisetzung. Nun denk ich unentwegt an meinen Vater. Will ich nicht. Tu ich aber dennoch. Und vielleicht ist daran gerade Reiner schuld. Mit seinen Bemerkungen. Dieser furchtbare Hellseher.«
    Die Bewunderung, die ich aus ihren Worten heraushörte, ärgerte mich. »Wieso denn Hellseher?«, fragte ich. »Das mit den Anteilen, von Natur aus, Blut und Gene … Das sind doch nur Allgemeinplätze. Hätte jeder sagen können. Jeder.«
    Carola lächelte mich an. »Hättest du das auch sagen können?«
    »Ja«, antwortete ich, bemüht, dieses eine Wort so klar und überzeugt klingen zu lassen wie es mir möglich war.
    Ich glaubte, etwas Zärtliches und Anerkennendes in ihrem Blick zu sehen. Dann jedoch stand sie auf und ging zurück zum Kanapee.
    »Und noch was«, sagte sie und setzte sich. »In der Nacht von vorgestern zu gestern träumte ich von Carla Serrini. Sie saß hier am Tisch und trank aus einer Schnapsflasche. In der Flasche war aber kein Schnaps, sondern Blut. Sie trank und trank, doch die Flasche wurde nicht leer. Ich hielt es nicht aus, sie so zu sehen, und wurde wach. In der Nacht von gestern auf heute wiederholte sich dieser Traum. Ich hielt ihn wieder nicht aus. Und nun die Angst, dass er sich jede Nacht wiederholt.«
    Carola stand auf, ging im Zimmer umher. »Natürlich ist Carla nicht einfach gestorben. Sie hat Selbstmord begangen, indem sie verblutete. Und ich hab sie verbluten lassen. Aber ich will nicht, dass es mir ergeht wie Reiner mit seinem Vater. Das will ich nicht.« Sie stieß mit dem Fuß gegen das Kanapee. »Das Ding muss raus. Raus, weg damit!« Sie schlug mit der flachen Hand
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