Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
die Freiheit zu gehen. In die Freiheit zu gehen – so sagte er das. Er werde sich betrinken, und wenn er sich besinnungslos betrunken habe, solle ich ihn auf die Schienen legen und von einem Schnellzug überrollen lassen. Bei uns, an unserem alten Bahndamm. Das solle ich tun. ›Das schaff ich nicht‹, hab ich zu ihm gesagt. ›Du bist viel zu schwer. Wie soll ich dich auf die Schienen kriegen?‹ Und er: ›Dann such dir jemanden, der dir hilft. Weißt du keinen, der dir helfen könnte?‹ Und ich: ›Doch, ich wüsste einen. Markus. Markus Bäcker.‹ Und er: ›Alle, aber nicht den. Den nicht.‹ Ich verstand nicht wieso und fragte ihn warum. Und Reiner: ›Mit dem hab ich mich getroffen, im Sommer hab ich mich mit dem noch einmal getroffen. Der kann das nicht, der bringt das nicht fertig. Der vermasselt das.‹ Ich sagte: ›Na gut, wenn wir es tun, dann leg dich ganz dicht an die Schienen, damit ich dich nicht weit ziehen muss. Ganz dicht.‹ In der nächsten Nacht sind wir dann mit zwei Flaschen Nordhäuser Doppelkorn zum Bahndamm gefahren. Reiner trank eineinhalb davon, ich eine halbe. Ob er betrunken war, kann ich nicht sagen. Keine Ahnung. Ich war’s jedenfalls von meiner halben. Er küsste mich dreimal auf die Stirn und schlief ein. Ich zog ihneinen halben Meter, legte seinen Kopf auf die Schiene und rannte die Böschung hinunter, am Bahndamm-Eck vorbei, das längst geschlossen hatte. Ich hörte den Zweizwanziger kommen und rannte und rannte, ohne mich umzublicken. Am Morgen, fünf Uhr, Polizei bei mir. Reiner Nilowsky, Selbstmord. ›Ja‹, sagte ich, ›er war depressiv, er hat immer wieder davon gesprochen, es war sein Plan.‹ Als sie weg waren, löste sich meine Anspannung. Ich heulte los. Vor Erleichterung, vor Freude. Verstehst du?«
    Carola blieb stehen, lächelte mich an. Ich war sprachlos. Nilowsky tot, und sie lächelte mich an.
    »Ach, du Trottelchen.« Sie klatschte mit der flachen Hand gegen meine Stirn. »Du glaubst mir auch alles, was? Nur weil ich’s atemlos erzählt habe, mit zitternden Händen.«
    »Ich … hab dir’s nicht geglaubt«, behauptete ich und unterdrückte meinen Ärger darüber, dass sie mich angelogen hatte.
    »Wie?«, entgegnete sie. »Du wagst es, mir nicht zu glauben?« Sie lachte übermütig, und ihre Stimme war kaum mehr heiser. »Na gut, jedenfalls besser, als wenn du tatsächlich denken würdest, ich wäre eine Mörderin. Obwohl, vielleicht würde gerade das mich in deinen Augen reizvoll machen. Kann doch sein, oder?«
    Sie ging weiter. Ich folgte ihr. Ihre Frage kam mir kokett vor, und ich hatte keine Lust, darauf zu antworten.
    »Was ist denn nun mit ihm?«, fragte ich. »Wie geht es ihm?«
    »Weißt du eigentlich«, sagte Carola, »wie oft er mich schon gebeten hat, ihn auf diese blöden Schienen zu legen? Keine Woche verging, in der er mich nicht darumgebeten hat – betrunken oder nüchtern, tagsüber oder nachts. Vor drei Tagen nun kam er zu mir ans Bett, rüttelte mich wach, erzählte mir von eurem Gespräch. Dieses letzte Gespräch im Sommer. Hatte er mir vorher nie was von erzählt. Und da sagte ich: ›Okay, ich mache mit. Wenn Markus Bäcker es tut, mache ich mit.‹ Er staunte nur, sagte kein Wort und ließ mich weiterschlafen. Als ich am Morgen aufwachte, war er fort. Alle Dinge, die ihm wichtig sind, hat er in seinem Lederkoffer mitgenommen: alte Fotos von Carla Serrini, eine Landkarte von Apulien, Bücher über Indien und von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin und natürlich auch seine Fliege im Himbeergeist. Auf einem Zettel hat er mir ein paar Worte hinterlassen:
    Wenn ich jetzt gehe, irgendwohin, weiß ich, dass mein Vater, egal, wo ich sein werde, auch sein
wird. Na und? Soll er, soll er. Bin ich wenigstens nie allein, egal, wo ich sein werde. Irgendwo in der Welt und nie allein. Eigentlich ist das doch
ziemlich wunderbar!
    Kaum hatte ich es gelesen, wurde ich traurig. Nie mehr ihn sehen. Diese Endgültigkeit. Nicht zu fassende Endgültigkeit! Nicht das erhoffte Gefühl von Befreiung, sondern diese unerwartete Traurigkeit. Da ich sie loswerden wollte, log ich dich an. Von wegen ich hätte ihn ermordet. Um zu sehen, wie du reagierst. Deshalb log ich. Um mich darüber zu amüsieren, wie du reagierst. Tja, amüsierte mich auch. Verjagte aber nicht die Traurigkeit. Überhaupt nicht.«
    Jetzt war ich es, der stehenblieb. »Wenn er … Wenner wirklich weg ist, heißt es doch noch lange nicht, dass er nicht wiederkommt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher