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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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auf die Kommode. »Dieses Ding ebenfalls. Auf Nimmerwiedersehen.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und dieses Ding soll in kleinste Teile zerhackt und verbrannt werden.« Sie seufzte, als wäre sie erschöpft von schwerer Arbeit. »Am Sonntag«, fuhr sie fort, »was hältst du davon, wenn wir Sonntagabend, ein letztes, ein allerletztes Mal … Nicht auf den Friedhof, nein, dasnicht. Aber in unsere alte Gegend. Ein Verabschiedungsbesuch, endgültig, ein für allemal. Für uns tun wir’s. Nur für uns beide.«
    »Ja«, bekräftigte ich. »Das tun wir.«
    »Bis Sonntag, mein Lieber«, sagte Carola darauf, nahm mich bei der Hand, führte mich zur Wohnungstür, zog meinen Kopf zu sich heran und verabschiedete mich mit einem Kuss auf die Stirn.

42
    Vier Nächte waren es noch bis zum Sonntag, und in diesen vier Nächten träumte ich immer wieder von Nilowsky und Carola. Ich war froh, dass ich mir nur zwei Träume merkte. Noch mehr hätte mich überfordert.
    Im ersten fing mich Nilowsky in abendlicher Dunkelheit vorm Hauseingang ab, raunte mir sein »Komm mit!« zu und dirigierte mich durch Pankow, bis wir an irgendeinem Bahndamm waren, der aussah wie unser Bahndamm. »Wenn du mein Freund bist«, sagte er, »und das bist du ja, mein Freund, das will ich hoffen, dass du das bist, mein Freund, und nichts anderes, dann gehe ich davon aus, dass du mir hilfst, davon gehe ich aus, wenn du mein Freund bist …« Diese Litanei wollte und wollte nicht aufhören, doch bevor Nilowsky mit seinem Wunsch, seiner Bitte, seinem Befehl herausrückte, wachte ich auf.
    Im zweiten Traum war ich zur Baracke hinterm Chemiewerk gegangen. Ihr Rotgelb war verwittert, aber von Brandspuren war nichts mehr zu sehen. Es war später Nachmittag, Dämmerstunde. Still war es, nicht einmal Vogelzwitschern oder auch nur das leiseste Rauschen in den Bäumen. Plötzlich hörte ich ein Husten aus der Baracke. Das Husten wurde lauter. Ging mit einem Krächzen einher und Würgegeräuschen. Ich schlich mich an die Baracke heran und schaute durcheines der Fenster. Ich sah einen langen, hageren Mann. Von hinten sah ich ihn. Es konnte Nilowskys Vater sein, oder vielleicht war es auch Reiner. Er stand inmitten von unabgewaschenem Geschirr und zerschlagenen Möbeln. Er hustete, krächzte und würgte, und zwischendurch lachte er. Kein befreiendes Lachen, sondern ein Ausdruck von Spott. Grimmig, schmerzhaft. Ich wusste immer noch nicht, ob es Nilowsky war oder sein Vater. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schnipste die Zigarette lässig auf ein Stuhlpolster. Augenblicklich stoben aus dem Polster Flammen auf, die im Nu die Holzdecke erfassten, die Wände und den Mann, der nunmehr weder hustete und krächzte noch lachte. Kein Ton war von ihm zu hören, obwohl er mitten in den Flammen stand. Auf einmal zog jemand an meinem Hosenbein. Es war Carola. Sie war derart klein und dünn, schmalgesichtig und sommersprossig, dass ich erschrocken zurückwich. Hätte sie nicht so viele, unendlich viele Falten gehabt, hätte ich sie für ein fünfjähriges Kind halten können. Auch ihre Stimme, hell und quäkend, entsprach der einer Fünfjährigen: »Komm mit!«, rief sie mir zu. Ich folgte ihr, auch dieses Mal folgte ich ihr. Sie sprang vor mir her und begann zu singen:
    Am Brunnen vor dem Tore,
    da stand ein Lindenbaum.
    Ich träumt’ in seinem Schatten
    so manchen graus’gen Traum.
    Und seine Zweige rauschten,
    als riefen sie mir zu:
    Komm her zu mir, Geselle,
    hier findst Du niemals Ruh!
    Hier findst Du niemals Ruh,
    hier findst Du niemals Ruh,
    niemals Ruh, niemals Ruh …
    Immer schneller und übermütiger sprang sie vor mir her, bis ich sie aus den Augen verlor und aufwachte.
    Ich nahm mir vor, Carola von diesem zweiten Traum zu erzählen. Sie würde ihn sicherlich deuten können.

43
    Eine Viertelstunde vor unserem Termin war ich am S-Bahnhof Alexanderplatz. Ich beobachtete Paare, die den Bahnhof betraten oder verließen, und fragte mich nach dem Grad ihrer Liebe, soweit die Liebe zu erkennen war. Nur für uns beide . Dieser Satz von Carola ging mir nicht aus dem Kopf. Er klammerte Nilowsky aus. Besagte nichts anderes, als dass es für uns ein Leben jenseits von ihm gab. Ein Leben als Paar.
    Carola kam auf die Minute pünktlich. Mit dunkelrot geschminktem Mund und einem langen, dunkelroten Kleid. Sie wirkte vorfreudig, aber auch angespannt. »Ich hab inzwischen alle Möbel von Carla Serrini abholen lassen«, sagte sie statt einer
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