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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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dagegen umso mehr. Immer wieder stellte ich mir vor, wie sie mit einem Koffer das Haus verlässt und zu mir gelaufen kommt. Wie sie mit einem »Los, lass uns flüchten!« meine Hand greift und wir die Langhansstraße in Richtung Prenzlauer Promenade rennen. Dort angelangt, umarmen und küssen wir uns, und Carola sagt: »Wir müssen weg, in eine andere Stadt.« Ich stellte mir vor, mit ihr nach Leipzig oder Dresden oder Rostock zu ziehen, wo ich genauso wie in Berlin Pädagogik studieren könnte. Allerdings – das war klar – würde uns Nilowsky irgendwann finden. Und so fragte ich mich, was stärker wäre: die Lust auf eine Liebesbeziehung mit Carola oder die Angst vor Nilowsky, der ohne Wenn und Aber verlangen würde, dass wir ihn töteten, bevor wir das Recht hätten, uns zu lieben.
    Im Oktober begann das Studium. Ich ging nicht mehr zum Antonplatz und bemühte mich wieder, nicht mehr an Carola und Nilowsky zu denken. Täglich gingich zu Vorlesungen, las mehr als nötig Fachliteratur, und mindestens zwei Nächte in der Woche verbrachte ich in Studentenklubs. Eines Nachts traf ich Manuela, die ehemalige Klassenbeste. Sie studierte inzwischen Jura; wir redeten stundenlang, dann küssten wir uns, und schließlich nahm sie mich mit zu sich in ihre Einzimmerwohnung in der Nähe der Uni. Wir schliefen miteinander. Danach sagte sie mir, dass sie den Eindruck gehabt hätte, ich wäre nicht wirklich leidenschaftlich gewesen. »Was denn?«, entgegnete ich. »Verteilst du jetzt Noten oder was?« So barsch ich das sagte, so sehr gab ich ihr insgeheim recht. Ich hatte mir Mühe gegeben, Leidenschaft vorzutäuschen, doch das war mir wohl nicht ganz gelungen.
    Nach der Nacht mit Manuela malte ich mir aus, wie leidenschaftlich ich mit Carola wäre. Wie sie aufblühen würde. Den ganzen Tag in der Uni konnte ich an nichts anderes denken. Ich nahm mir vor, noch am gleichen Abend und am nächsten Tag so lange auf dem Antonplatz zu verharren, bis sie ihre Wohnung verlassen würde. Ich wollte und konnte nicht länger warten.
    Als ich nach Hause fuhr, um meine Sachen aus der Uni abzuladen, traute ich meinen Augen nicht. Carola stand vor der Haustür. Wieder wie gerufen. Kaum dass sie mich entdeckt hatte, kam sie auf mich zu. Ihr Mund war dunkelrot geschminkt, die Haare abgeschnitten bis knapp über die Ohren, sodass ihr Gesicht nicht mehr so schmal wirkte. Sie trug ein kurzärmliges weißes Kleid mit roten Punkten, das mich natürlich an das Kleid erinnerte, mit dem sie auf der Beerdigung von Nilowskys Vater ein heller Tupfer unter den dunkelGekleideten gewesen war. Sie glich, wie ich fand, einer Rose.
    »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr nach Hause«, sagte sie, lachte und schüttelte den Kopf. »Also wirklich, ich hör mich an wie eine besorgte Mutter, die zu ihrem Kind spricht, nicht wahr? Sag mal, wolltest du dir nicht eine kleine Wohnung in der Nähe der Uni suchen?«
    »Ja«, log ich, »bin immer noch dabei.«
    »Ach, mir musst du nichts vormachen. Du lebst doch bei deinen Eltern wie die Made im Speck. Optimallösung, hab ich ja schon mal gesagt.«
    Ich fühlte mich zwar nicht wie die Made im Speck, aber tatsächlich hatte ich keinen Grund mehr gesehen, von meinen Eltern wegzuziehen, nachdem sie mir versichert hatten, dass es für sie eine große Freude wäre, wenn ich für die Zeit des Studiums bei ihnen wohnen bliebe.
    »Ich denke, du wolltest keine Fremdwörter mehr benutzen«, sagte ich.
    Carola ging nicht darauf ein. Sie knetete ihre Hände, und ich sah, dass sie zitterten. »Ich muss mit dir reden. Es ist was passiert.«
    »Nicht hier!«, sagte ich. »Lass uns ein Stück gehen.«
    Konspirativität, dachte ich. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, keine Frage. Dass Nilowsky womöglich nicht mehr lebte, konnte ich mir allerdings nicht vorstellen. Denn obwohl ich nichts mehr von ihm gehört hatte, ging ich davon aus, dass er mir Bescheid gegeben hätte, wenn es irgendwann so weit gewesen wäre mit der Aktion Bahndamm. Wir liefen über die Prenzlauer Promenade Richtung Heinersdorf, denselben Weg,den ich mit Nilowsky gegangen war, als er von der Polizei gesucht wurde und mit einem Schal um den Kopf und abgemagert bis auf die Knochen wie einer dieser Wehrmachtssoldaten im russischen Winter ausgesehen hatte.
    »Vor drei Tagen«, begann Carola, »kam Reiner zu mir ans Bett, rüttelte mich wach. Sagte, er müsse mich um was bitten. Wie noch nie in seinem Leben müsse er um was bitten. Er habe nämlich beschlossen, in
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