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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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Das hatte mit Revolution nichts zu tun, das war das Gegenteil davon. Das war Verrat an der Revolution, das war’s. Aber genug davon. Komm mir ja schon vor wie ’n Staatsbürgerkundelehrer. Kannst du dich erinnern,wie du mir gesagt hast, ich hätte das Zeug für einen Staatsbürgerkundelehrer, einen ehrlichen, wahrhaftigen? Staatsbürgerkunde und Chemie, das wäre mein Wunsch gewesen. Meine Wunschfächer als Lehrer. Aber das ist jetzt Vergangenheit. Lange her, oder?« Eine Spur von Bitterkeit war in seiner Stimme. Wieder fuhr eine Straßenbahn an uns vorbei. Nilowsky beachtete sie nicht. »Und außerdem«, fuhr er fort, »dachtest du doch, ich wäre ein Nazianhänger geworden, als ich dir vom indischen Hakenkreuz erzählt hab, dachtest du doch, oder? Aber es dürfte wohl kaum zu einem Nazi passen, dass er in Afrika Chemiewerke bauen will, die Tabletten gegen Hunger herstellen. Und ich bin auch nicht schuld daran, dass Carola elend aussieht, elend wie noch nie. Nein, es war ihre Idee, zu Hause zu bleiben. Ich verdiene ja genug Geld, meinte sie, da könne sie getrost zu Hause bleiben. Ich hab ihr Blumen gekauft, hab ich, Gerbera, Lilien, Tulpen, Rosen, Nelken. Um unser Zuhause schöner zu machen. Hat sie alle weggeworfen. Das hat sie. Alle.«
    Tatsächlich hatte ich im Wohnzimmer keine Pflanze gesehen, keine einzige. Ich hatte dem keine Bedeutung beigemessen. Nun jedoch kam es mir wie ein Selbstbestrafungsversuch Carolas vor.
    »Und wenn ihr euch trennt?«, wagte ich zu fragen.
    Einen Moment hielt ich, erschrocken über diese Bemerkung, die Luft an. Nilowsky nickte vor sich hin, als erwäge er eine Antwort. »Kennst du die Parsen?«, fragte er.
    »Nein. Kenn’ ich nicht.«
    »Dacht’ ich mir. Kannte ich bis vor ein paar Wochen nämlich auch nicht. Die Parsen sind eine Volksgruppe,die in Indien lebt. Nicht nur, aber die meisten leben in Indien. Las ich in einem Buch. Die Parsen, las ich, die bestatten ihre Toten nicht unter der Erde, weil die Erde heilig ist und nicht beschmutzt werden darf, sondern unterm Himmel. Sie legen die Toten auf Felsen. Dorthin kommen die Geier und reißen Fleischstücke aus den Toten. Manchmal, während des Fluges, verlieren die Geier ein Fleischstück. Das fällt runter auf eine Stadt oder ein Dorf und versendet Bioströme …«
    Mir war klar, dass Nilowsky nun wohl auf seinen Vater zu sprechen kommen würde. Ich fragte: »Woher weißt du das mit den Bioströmen? Ist das erwiesen? Gibt’s da wissenschaftliche Erkenntnisse? Und warum erzählst du mir von Bioströmen, obwohl ich nach dir und Carola gefragt hab?«
    Nilowsky blieb stehen, packte meinen Arm. »Was ich dir erzähle, entscheide ich immer noch selbst, kapierst du das?! Außerdem: Was redest du von Wissenschaft und Erkenntnissen? Denkst du, weil du studieren und bald Lehrer sein wirst, kannst du hier große Töne spucken? Denkst du das?«
    Er kam dicht an mich heran, nur ein paar Zentimeter trennten unsere Gesichter voneinander. Ich roch seinen Schnapsatem. Ich ekelte mich davor. Doch ich wich keinen Zentimeter zurück. Wie zwei Boxer, dachte ich, die sich kurz vor dem Kampf noch einmal in die Augen schauen. Ich zwang mich, seinem Blick standzuhalten. Plötzlich ließ er meinen Arm los, ging ein Stück von mir weg, ohne mich anzusehen.
    Wir waren inzwischen am S-Bahnhof Greifswalder Allee angekommen. Nilowsky setzte sich auf eine der Bänke, die vor dem Bahnhofsgebäude standen. EineS-Bahn war eingefahren; Betrunkene, Schichtarbeiter, Liebespaare kamen auf die Straße, gingen an uns vorbei. Ich setzte mich neben Nilowsky. Sagte nichts. Wartete. Und bemerkte erst jetzt, wie sehr ich vor Angst ins Schwitzen geraten war.
    »Sie haben ihn nicht verbrannt«, flüsterte er. »Sie haben ihn zerstückelt und die einzelnen Teile sonst wohin verstreut, das haben sie. In seine Urne haben sie irgendwelche andere Asche getan, von irgendwelchen anderen Toten. Auch das träume ich. Fast jede Nacht träume ich das. Und weil ich es träume, immer wieder, ist es geschehen. Ich würde es doch sonst nicht träumen, immer wieder. Logisch, oder?«
    Ich sah ihn nicht an, und er sah mich nicht an. Ihm ist nicht mehr zu helfen, dachte ich. Er ist in seiner eigenen Welt, und deshalb ist ihm nicht zu helfen.
    »Der Alte ist nicht tot«, sagte er, so leise, dass ich mich anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Der ist nicht drüben, in der andern Welt, ist er nicht, der alte versoffne Hungerhaken. Der ist noch hier. Deshalb muss ich weg. Muss rüber. Muss
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