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Nigger Heaven - Roman

Nigger Heaven - Roman

Titel: Nigger Heaven - Roman
Autoren: Walde + Graf Verlag
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Debussys Jeux und Eric Saties Klavierstücken gaben amerikanischen Kritikern den Mut, sich neuen Klängen zu stellen, die sie, obwohl sie diese bereits direkt vor ihrer Haustür vernommen hatten, nicht für Kunst hielten, sondern nur für »Volksmusik« oder gar »primitiv«.
    Ich erinnere mich, dass ich eines Nachts in Paris ziemlich spät nach Hause kam. Es war 1929 und die letzte Saison von Diaghilevs Ballets Russes. Ich wurde von einer englischen Dame in Champagnerlaune angesprochen, die mich angesäuselt fragte: »Où est la rue Josephine Baker?« [»Wo ist die Josephine-Baker-Straße«?] Ich sagte, dass es meines Wissens keine gäbe. Sie wies mit einem insistierenden Finger in die allgemeine Richtung des Panthéons und erwiderte mit Bestimmtheit: »Es wird sie geben, es wird sie geben.« New Yorker sollten den gallischen Brauch übernehmen, Straßen nach Personen zu benennen, anstatt ihnen Nummern zu geben. Eines Tages sollte es in Harlem eine Van Vechten Plaza geben und dort auf einer Marmorsäule die süperbe Büste, die Gaston Lachaise von Van Vechten anfertigte (sie befindet sich im Chicago Art Institute und ist eines der vielen großartigen Geschenke, die Carl noch zu Lebzeiten aus dem Bestand seiner persönlichen Schätze vermachte.) Lachaise sagte einmal zu mir nach einer Sitzung mit Carl: »Comme il est magnifique, comme un empereur romain!« (»Wie prachtvoll er doch ist, wie ein römischer Kaiser!«) Carl sah das Überraschende im Gewöhnlichen; er erkannte, vielleicht als Erster in einem erkennbaren Grad, das natürliche Flair, das Talent für Rhythmus und Ausdruckskraft, die Lebensfreude, das Feuer, das Mörderische und die verbale Genauigkeit im Dialekt des Harlemer Alltagslebens. Er eignete es sich an und gab es an uns weiter. Wie alles andere, das ihn interessierte, verstand er seine Essenz, er analysierte und dokumentierte seinen Ablauf und seinen Einfluss. Carl war ein Kind der neunziger Jahre, er wurde der Mann der zwanziger und ein Weiser in den sechziger Jahren. Er war ein Stammesgenosse von William Beckford und Horace Walpole, die nicht nur selbst geschmacksbildend waren, sondern auch reale Objekte vererbten, und ohne ihrer Sammlerleidenschaft oder vielmehr ohne ihr Gefühl, etwas verwalten zu müssen, wären die National Gallery in London, die New York Public Library und die Beinecke Library der Yale University weniger reich.
    Von Carl lernte ich die Eleganz im Alltäglichen zu sehen. Er wies mich als Erster darauf hin, dass ein Amerikaner weitaus mehr mit Baseball und Jazz zu tun hat als mit Großherzögen und Ballerinas. Die Tatsache, dass George Balanchine für seine ersten professionellen Arbeiten in den USA nicht eine Ballettkompanie verwendete, sondern dass er die letzte Auflage der Ziegfield Follies choreographierte und die wundervollen Musicals von Lorenz Hart und Dick Rodgers, ist zum Teil Carl zu verdanken. Schon lange bevor er Russland 1916 verließ, war Balanchine amerikanisiert worden. Wie auch Strawinsky war er von der Unterhaltungsmusik Amerikas begeistert. Dass Gertrude Stein Carl so sehr schätzte war natürlich und logisch; die amerikanische Häuslichkeit, die sich in ihrer Pariser Küche zusammenbraute, resultierte in den zwei echten Meisterwerken der amerikanischen Oper, die für immer einen festen Platz in unserem Musiktheater einnehmen werden: Virgil Thomsons Four Saints in Three Acts, ein ritueller Valentinsgruß der Anmut, des Glaubens und der Ordnung in Harlem, und The Mother of Us All, die Tragödie des Scheiterns der amerikanischen Suffragette.
    Wir alle wissen von seiner öffentlichen Großzügigkeit, einige wenige von uns von seiner privaten Hochherzigkeit. Seine Qualitäten sind so lebendig, und wir empfinden seine Extravaganzen heute nicht weniger erstaunlich. Er liebte das Absonderliche und reduzierte Wichtigtuerei durch die Autorität seines Wissens und den immensen Umfang seiner persönlichen Beobachtung auf das ihr entsprechende Maß. Er war, wenn man so will, ein Anti-Held. Er setzte große Maßstäbe, aber sie waren amerikanisch, mussten assimiliert werden, es war eine verwandelte Häuslichkeit, so wie das Feuer in einer Feuerstelle, das kleine Proszenium, wo die magischen Bilder glühen. Er schloss sich nie den üblichen Urteilen der gerade herrschenden Mode an. In seiner Zeit gab er den Ton an. Er konnte bewusst unmodern sein. Im Lauf der Zeit wurde er zu dem, was die ältliche, junge, postadoleszente Aufsteigergarde als »altmodisch« bezeichnet.
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