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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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schreiben wird, sehr bürgerlich unterzeichnet mit In herzlicher Liebe Ihr Friedrich Nietzsche 513 . Er ist an den alten Mitprofessor Jacob Burckhardt gerichtet und beginnt so:
    Lieber Herr Professor,
    zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt. – Doch habe ich mir ein kleines Studenten-Zimmer reservirt, das dem Palazzo Carignano (– in dem ich als Vittorio Emanuele geboren bin) gegenüber liegt und außerdem erlaubt, die prachtvolle Musik unter mir, in der Galleria Subalpina, von seinem Arbeitstisch aus zu hören. Ich zahle 25 fr. mit Bedienung, besorge mir meinen Thee und alle Einkäufe selbst, leide an zerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind. – Da ich verurtheilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten, so habe ich hier eine Schreiberei … Die Post ist 5 Schritt weit, da stecke ich selber die Briefe hinein, um den großen Feuilletonisten der grande monde abzugeben. …
    Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin … Morgen kommt mein Sohn Umberto mit der lieblichen Margherita, die ich aber nur hier in Hemdsärmeln empfange. Der Rest für Frau Cosima … Ariadne … Von Zeit zu Zeit wird gezaubert …
    Ich gehe überall hin in meinem Studentenrock, schlage hier und da Jemandem auf die Schulter und sage: siamo contenti? son dio, ho fatto questa caricatura …
    Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von deutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft.
    Sie können von diesem Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt. – 514
    Aber wie soll er das tun? Jacob Burckhardt wendet sich sofort – mit Brief – an den Professor für neutestamentliche Exegese und Ältere Kirchengeschichte Franz Overbeck. Vielleicht liest dieser jetzt noch einmal, was Nietzsche ihm zuletzt schrieb, am zweiten Weihnachtsfeiertag: Ich selber arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich will das »Reich« in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, sammt Zubehör in den Händen habe. Unter uns! Sehr unter uns! – Vollkommene Windstille der Seele! Zehn Stunden ununterbrochen geschlafen. N. 515
    Hier ist kein Tag mehr zu versäumen.
    *
    Und dann tritt Franz Overbeck, einst Urheber des Titels »Afterphilologie« für Rohdes Streitschrift, in das Turiner Zimmer des Freundes: »Ich erblicke N. in einer Sofaecke kauernd und lesend … entsetzlich verfallen aussehend, er erblickt mich und stürzt auf mich zu, umarmt mich heftig, mich erkennend, und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sofa zurück, ich bin auch vor Erschütterungen nicht imstande, auf den Beinen zu bleiben. Hat ihm sich in diesem Augenblick der Abgrund aufgetan, an dem er steht oder in den er vielmehr gestürzt ist?« 516
    Die Schrift, in der er las, war ihm in der Erregung aus der Hand geglitten, es ist der letzte Korrekturbogen von »Nietzsche contra Wagner«. Nietzsche las Nietzsche. Er las, dass nach Wagners »Kaisermarsch« nicht einmal der deutsche Kaiser marschieren könne – trotzdem hat er sich noch zuletzt geweigert, sein Exemplar des »Kaisermarschs« zu verkaufen, ihm von Wagner gewidmet, mit dessen Mannheimer Notizen darauf. Er las, dass man in Bayreuth nur als Masse ehrlich sei: als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich selbst zu Hause … Im Theater wird man Volk, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Patronatsherr, Idiot – Wagnerianer. 517 Musste er lachen, über sich? Um Wagner zu hören, brauche ich Pastilles Gérandel. 518 Aber jetzt lacht er nicht mehr. Stöhnen. Zuckungen. Jetzt helfen auch keine Pastilles Gérandel.
    Der Untermieter hatte seine Wirtsfamilie nun schon drei Nächte durch Musik und Tanz wach gehalten, die schlaflosen Finos waren mit ins Zimmer getreten und reichen ihrem dionysischen Hausgast ein Glas Bromwasser. Beruhigung. Er setzt sich ans Klavier, er phantasiert, nein, er rast auf dem Instrument, um
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