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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Autoren: Kerstin Decker
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einsehen wolle, sei ein Voyeur. Was Borchmeyer nicht bedenkt, ist das Nächstliegende, die Scham. Eine mütterliche Freundin mag vieles verstehen, man mag ihr fast alles sagen können, aber dass ein Mann einer Frau mitteilt, ein anderer habe ihn der Onanie bezichtigt – das geht nicht nur etwas zu weit, das geht viel zu weit, genauer: es ist undenkbar. Andererseits besitzt ein Mensch in Friedrich Nietzsches Lage ein gewisses Mitteilungsbedürfnis, und gegenüber Malwida hat er nie ein Geheimnis aus sich gemacht, sie will ihm auch jetzt helfen, lädt ihn ein zu sich nach Rom, und ja, der erste Halbsatz ist ihm schon unterlaufen: W. hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt. 478 An dieser Stelle hält der Autor inne, will schon abbrechen, entschließt sich jedoch anders und dokumentiert diesen Beinahe-Interruptus durch ein eingeschobenes – ich will es Ihnen doch sagen! –, das sich ohne Zweifel mehr an sich selbst als an die Freundin richtet, um bemerkenswert allgemeinplätzlerisch fortzufahren: Wagners Zurückschleichen zum Christentum habe ihm missfallen. Ja aber, das weiß sie doch!
    Das ist doch keine neue Nachricht im Jahr 1883, schon gar keine, zu der man einen solchen Anlauf nehmen müsste. Der Übersichtlichkeit halber sei der ganze Satz noch einmal im Zusammenhang wiedergegeben: W hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt – ich will es Ihnen doch sagen! – sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, insofern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hätte. 479
    Ja, was für ein Fundamentalismus ist das denn? Was sollten die Muslime der Erde beginnen, würden sie die Existenz jedes einzelnen Christen als persönliche tödtliche Beleidigung nehmen? Zumal Richard Wagner nicht einmal zum Christ geworden ist, sondern einen christlichen Stoff komponiert hat. Nietzsche als Obertaliban der Atheisten? Brechen wir an dieser Stelle ab. Es passt nicht.
    Wie antwortet man auf tödliche Beleidigungen?
    Der Patient zweier Ärzte hat genau drei Möglichkeiten. Für die erste, Richard Wagner zum Duell zu fordern, ist es zu spät. Die zweite scheint den Heutigen gewiss am plausibelsten: das öffentliche Dementi dessen, der nichts zu verbergen hat. Sie steht dem Begutachteten nicht zur Verfügung.
    Bleiben die indirekten Formen, die feineren, langsameren Gifte.
    Färben sie seine Wahrnehmungen, sein schriftstellerisches Temperament? Auf niedrige Weise zu hassen, ist er nicht begabt. Er verachtet den Hass; er glaubt, dass die Schwachen, die Frauen also, aus dieser Quelle leben. Und er bekennt noch in diesem Frühjahr, Wagner nie gehasst zu haben, es auch jetzt nicht zu können, obwohl seine Perfidien jedes Maß – jedes Lou-Maß – bei weitem überstiegen hätten. Doch Friedrich Nietzsche ist aufmerksam geworden. Er wird dazu übergehen, Richard Wagners Musik vor allem hinsichtlich einer spezifischen Wirkung zu betrachten: auf die Gesundheit.
    Und: Wer dürfte von ihm noch Maß verlangen? Sein Maß ist fortan die Maßlosigkeit. Aber in ihr, genau wie bei Wagner, höchste Präzision.

Richard Wagner schreitet vom Festspielhaus über die »Rheingold«-Regenbogenbrücke nach Walhalla.
Zeichnung aus der Wiener »Bombe«.
    Der Selbsterlöser und der Zauberer
    Es gibt nicht nur Menschenrechte, wie die Schwachen meinen. Es gibt vor allem Menschenpflichten.
    Die Erlösung ist eine viel zu ernste Sache, um sie anderen zu überlassen. Gar dem Christentum. Gar Frauen. Er muss lachen. Erlöserinnen, diese im höchsten Grade Unerlösten? Kann man durch etwas Geringeres erlöst werden? Darauf konnte nur Richard Wagner kommen; Wagner hätte am Ende noch Hunde zu Helden seiner Opern gemacht, wenn er auf das Verständnis seines Publikums hätte rechnen dürfen.
    Frauen kann man überleben, Erlöser auch. Wer Glück hat, wer stark genug ist, überlebt sie, vielleicht. Friedrich Nietzsche macht die seltsame Erfahrung, dass sich mit einem Toten leichter reden lässt als mit einem Lebenden.
    Erlösung ist grundsätzlich Selbsterlösung. Erst zu sich selbst und dann darüber hinaus. Die Formel der neuen Zeit muss lauten: Mein Erlöser bin ich! Ja, mehr noch: Jeder hat die Pflicht, sich zu sich selbst zu erlösen. Von seiner Nurmenschlichkeit, von seiner Schwäche. Eine schwerere Last lag nie auf den Schultern der Menschen, und er darf sich rühmen, sie entdeckt und
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