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Niemand lebt von seinen Träumen

Niemand lebt von seinen Träumen

Titel: Niemand lebt von seinen Träumen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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in Köln im Hals. Sie bemühte sich tapfer, ihn immer wieder hinunterzuschlucken. Während der langen Bahnfahrt hatte sie immer wieder versucht, sich wenigstens ein bißchen auf die Ankunft und auf die erste Begegnung mit Tante Nette zu freuen, doch es wollte nicht so recht gelingen. Ständig sah sie Frank vor sich: wie er das große Schiff bestieg, wie es ablegte, und der an der Reling stehende Frank mit wachsender Entfernung immer kleiner und kleiner wurde und schließlich in der Ferne nicht mehr zu erkennen war. So stellte sie sich seine Abreise nach New York vor, die in genau fünf Tagen stattfinden sollte. Aber da war sie ja längst in Garmisch. Sie stellte sich mehrmals selbst die Frage, ob sie nicht doch besser hätte warten und bei Franks Abreise am Hafen sein sollen, doch letztendlich fand sie ihren Entschluß richtig. So ist es besser, dachte sie. Wir hätten den Abschied beide nicht durchgehalten.
    Susanne gab sich einen Ruck und schaute sich um, ob sie abgeholt würde.
    Auf dem Bahnsteig war niemand … das sah sie gleich. Auch in der kleinen Bahnhofshalle wartete offensichtlich keiner der dort Anwesenden auf sie. Da trat sie aus dem Gebäude heraus und schaute sich um. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, blinzelte und hatte Mühe, im ersten Augenblick alles zu erkennen und wahrzunehmen.
    Unter einer weit ausladenden Fichte stand ein kleiner Pferdewagen. In ihm saß eine würdige alte Dame. Ein pfeifenrauchender Knecht von etwa gleichem Alter hockte auf dem Bock und hielt die Zügel der beiden Pferde. Er zeigte plötzlich mit dem unrasierten Kinn zum Bahnhof und meinte:
    »Dös muaß's Dearndl sein, die mit dem Grübchen auf der Nas'n …«
    »Was du alles siehst!« sagte Tante Nette strafend und bemüht auf Hochdeutsch. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihren oberbayrischen Dialekt fürs erste zu unterdrücken und sich ausschließlich der hochdeutschen Sprache zu bedienen. Sie hatte sie nach dem Internatsbesuch vorbildlich beherrscht, aber durch den dann folgenden ständigen Aufenthalt in Garmisch war die einheimische Mundart später wieder ungehemmt durchgebrochen.
    Jetzt aber wollte sie ihrer Nichte nicht den Eindruck vermitteln, sie käme in das Haus einer unkultivierten Frau.
    »Übrigens – du hast dich nicht einmal heute rasiert, Sepp! Du bist ein Schwein!«
    »Dös war, weil …«, suchte Sepp nach einer Verteidigung …
    »Halt den Mund!« schnitt ihm Tante Nette das Wort ab. »Fahr an den Bahnhof heran und halte den Mund auch weiterhin! Los!«
    Wenige Sekunden später lag Susanne in den Armen ihrer vor Freude und plötzlicher Rührung schnaufenden Tante; eine Begebenheit, die Sepp mit weit aufgerissenen Augen beobachtete und ihn zu dem leisen Ausruf drängte: »Dös Weibstück hat wirkli a Herz!«
    Tante Nette ahnte die Zusammenhänge nicht, die Susanne zu diesem überraschenden Besuch bei ihr bewogen hatten, aber da sie einen geschulten Blick besaß, bemerkte sie sofort, daß die Freude ihrer Nichte gespielt war und unter der Maske des Lachens die Tränen standen. Sie sagte nichts, sondern beobachtete Susanne nur kritisch von der Seite, als sie durch Garmisch fuhren, vorbei an den schönen Bauernhäusern mit den kunstvollen Lüftlmalereien und den Segenssprüchen, vorbei an den Wiesen und Hängen, die in Kürze, wenn der Winter richtig über Garmisch hereinbrach, von Skifahrern bevölkert sein würden. Als sie zu Hause waren und während Susanne auf ihrem Zimmer die Koffer auspackte, nahm Tante Nette den Knecht zur Seite und brummte:
    »'s Madl hat Kummer! Mannsbilder, verfluchte!«
    Was Sepp als eine persönliche Beleidigung auffaßte und brummend das Zimmer verließ.
    Beim Kaffee dann begann Tante Nette den Angriff auf die Seele Susannes. Sie tischte dicken, weißen Bauernstuten, eine große Dose mit frischer goldgelber Butter sowie einen Topf selbsteingemachter Erdbeermarmelade auf und meinte: »Nun iß, Susanne. Und sag mir mal, was eigentlich los ist.«
    Susanne verschluckte sich und sah ihre Tante Nette aus großen Augen an. »Was soll denn los sein?« fragte sie.
    »Red nicht so dumm daher!« Tante Nette sah die Nichte strafend an. »Daran, daß du zu mir kommst, hat doch ein Mann schuld.«
    »Aber nein, Tantchen …«
    »Doch! Ich sehe es an deinen Augen! Du bist traurig. Da stimmt etwas nicht! Hat er dich sitzenlassen?«
    »Nein.« Susanne sah auf den Boden, der mit einem handgeknüpften Allgäuer Teppich belegt war. Plötzlich begann sie zu schluchzen.
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