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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition)
Autoren: Johannes Mario Simmel
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zu ihr. Im Saal brach die Hölle los. Alles schrie durcheinander. Ich rannte zu Sylvia. Sie lag auf dem Rücken. Die Augen waren weit offen. Der Arzt kniete vor ihr, untersuchte sie. Nun war es plötzlich totenstill.
    Der Arzt sah den Vorsitzenden an und schüttelte kurz den Kopf.
    »Die Verhandlung«, sagte der Vorsitzende, »wird unterbrochen. Die Angeklagte muß ärztlich untersucht werden.«
    Unmittelbar danach wurde Sylvia aus dem Saal getragen.

64
    K nappe zwei Stunden später.
    Die Richter kehrten aus dem Beratungszimmer zurück. Alles im Saal erhob sich. Sonderbarerweise blieben die Richter stehen.
    Warum setzen sie sich nicht? dachte ich.
    Mußte Sylvia ins Krankenhaus?
    Wird die Verhandlung vertagt?
    Da sagte der Vorsitzende: »Mrs. Moran ist tot. Der Landgerichtsarzt hat Herzversagen festgestellt. Das Verfahren wird eingestellt.« Pause. Dann: »Lassen Sie mich noch hinzufügen: Nach allen bisher bekannten Tatsachen ist das Gericht der Überzeugung, daß die Angeklagte unschuldig gewesen ist. Die Verhandlung ist geschlossen.«

65
    A n diesem Nachmittag erhielt ich zum ersten Mal Besuch: Ruth kam aus dem Gefängnis plötzlich in den Hof heraus, in dem ich allein, denn die anderen Häftlinge hatten ihre Freistunde schon gehabt, meinen Spaziergang machte – ich war erst spät vom Gericht zurückgebracht worden. Ich trug einen braunen (Philip-Kaven-)Anzug und weiche, leichte Schuhe, denn es war nun sehr warm geworden. Auf dem Hof wuchs wieder Gras, alle Bäume hatten neues Laub. Die Sonne schien noch über die Mauer. Ich ging langsam in einem großen Kreis, vorbei an der Gefängniswand mit ihren vergitterten Fenstern. Und plötzlich stand Ruth in einer Tür.
    Sie hob kurz die Hand (ich sah, daß sie ein kleines Päckchen trug), dann kam sie auf mich zu. Ich ging ihr entgegen. Als wir einander trafen, umarmten wir uns stumm und küßten uns lange. Dann sahen wir uns an. Dann küßten wir uns wieder. Und dann gingen wir den schotterbestreuten Pfad entlang, langsam.
    Nach einer Weile sagte Ruth: »Der Untersuchungsrichter hat seine Sekretärin im Krankenhaus anrufen lassen. Vor einer halben Stunde. Sie sagte, ich dürfe dich besuchen. Ich habe, das hat dir sicher dein Anwalt gesagt, immer und immer wieder um die Erlaubnis gebeten. Sie ist mir stets verweigert worden.«
    »Ja, das hat mein Anwalt mir gesagt.«
    »Auch, daß ich es immer und immer wieder versucht habe?«
    »Auch das.« Ich blieb stehen. »Weißt du, wann wir einander das letzte Mal gesehen und gesprochen haben?«
    »Natürlich.« Sie trug ein blaues Kleid und weiße Schuhe, und ihr Gesicht war sehr blaß. »An jenem Abend in meiner Wohnung, nachdem sie dich freigelassen hatten. Bevor du nach Madrid geflogen bist.«
    »Ja«, sagte ich. »Am zehnten Oktober war das. Heute ist der dreiundzwanzigste Mai. Wir haben uns sieben Monate lang nicht gesehen, Ruth. Sieben Monate. Davor war ich gewohnt, dich jeden Tag zu sehen. Jeden Tag, Ruth! Ich konnte mir einen Tag ohne dich nicht mehr vorstellen.«
    »Auch ich konnte mir keinen Tag ohne dich mehr vorstellen, Liebster«, sagte Ruth sehr leise. Wir sahen uns immer wieder an. »Es war eine schlimme Zeit.«
    »Die schlimmste meines Lebens«, sagte ich.
    »Auch in meinem. Schlimmer als die Zeit, als mein Bruder sich umbrachte, vorher und nachher.«
    In den Ästen der alten Bäume lärmten die Vögel.
    »Ich habe an dich gedacht«, sagte ich, »Tag und Nacht. Ich habe alles, was ich mit dir erlebt habe, aufgeschrieben.«
    »Der Untersuchungsrichter hat es mir gesagt. Auch ich, mein Liebster, auch ich habe an dich gedacht – immer, im Wachen und im Träumen. Ich war immer bei dir.«
    »Ja«, sagte ich. »So habe ich es manchmal empfunden. Aber es war sehr arg, trotzdem.«
    »Auch für mich«, sagte sie und strich mit einem Finger über meine Wange. »Du siehst gut aus, Phil.«
    »Ich weiß, wie ich aussehe. Du, Ruth, du siehst …«
    Sie legte den Finger auf meinen Mund.
    »Nicht. Auch ich weiß, wie ich aussehe. Mir ist so elend wie dir. Ich glaube, wir sollten das lassen. Denn es ist immer noch nicht vorbei.«
    »Aber du wirst mich jetzt wenigstens häufiger besuchen kommen können, nachdem Sylvia tot und ihr Prozeß zu Ende ist.«
    »Ja«, sagte Ruth. »Arme Sylvia.«
    »Sie hat ihren Frieden«, sagte ich. »Hoffentlich. Ich hätte auch gerne Frieden.«
    »Alle Menschen, Phil.«
    »Und man hat ihn erst, wenn man tot ist … bestenfalls?«
    Sie sah mich lange an, dann sagte sie: »Hast du noch die
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