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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition)
Autoren: Johannes Mario Simmel
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war Sylvia schon tot, und wenn sie noch so lange lebte, ja, sogar wenn sie freigesprochen wurde! Tot, weil er sie nicht mehr brauchen konnte. Tot als Schauspielerin. Tot als Wertobjekt. Tot – aber noch auszuschlachten, wenn er sich beeilte. Und er hat sich beeilt!«
    »Mein Gott«, sagte Ruth erschüttert.
    »Ich kenne diese Industrie. Ich kenne Joe. Glaube mir, so war es. So ist es. Glaube mir, Liebste, Joes Herz hüpft vor Entzücken über die tobsüchtige Aussage dieser Carmen Cruzeiro, über meine Verhaftung, über Brackens Entlarvung – über alles, was neue Schlagzeilen, neue Sensationen, neue Millionen gebracht hat. Dieser Prozeß war der letzte Film, den Joe mit Sylvia gemacht hat! Und er hat sich dabei ein Happy-End eingehandelt, an das er wahrscheinlich nicht zu denken wagte – nein, an das er dauernd dachte, das er aber trotz seiner frommen Gebete für unerreichbar ansah – ich meine Sylvias Tod. Das war das größte Happy-End seines Lebens.«
    Wir gingen schweigend weiter. Die Schatten wurden länger, die Sonne sank, die Vögel waren verstummt.
    »Und er wird nicht bestraft werden?« fragte Ruth zuletzt.
    »Leute wie er werden nicht bestraft. Nicht von anderen Menschen. Nicht auf die gewöhnliche Weise. Manchmal auf absonderliche Weise. Meistens gar nicht.«
    Sie drückte meinen Arm, nachdem sie auf die Uhr gesehen hatte. »Ich muß dringend in das Krankenhaus, Liebster.«
    »Wann kommst du wieder?«
    »Morgen!« Jetzt lächelte sie ihr wunderbares Lächeln. »Der Untersuchungsrichter hat mir sagen lassen, daß ich dich nun immer besuchen kommen darf – vielleicht jeden Tag. Das ist ein gutes Zeichen! Hier, fast hätte ich es vergessen. Dies ist ein Geschenk von Babs. Für dich. Sie hat es mir gegeben und gesagt, ich soll es dir überreichen, sobald ich dich sehe.«
    Ich nahm das Päckchen und öffnete es. Das Papier ließ ich fallen. Babs hatte einen Teller aus Ton gemacht – handflächengroß, durchaus nicht rund, durchaus nicht glatt. Aber es war ein Teller, ohne jeden Zweifel. Und auf den Ton hatte Babs viele rote und blaue und gelbe und weiße Punkte geschmiert, dazu grüne Linien.
    »Ob das Blumen sein sollen?«
    »Ja, ich denke, das sollen Blumen sein«, sagte Ruth. »Was sie schon kann! Ist es nicht schön?«
    »Wunderschön«, sagte ich und fühlte, wie mir Tränen in die Augen schossen. »Ganz wunderschön.«
    »Sie macht Fortschritte, Liebster, ich sagte es dir.«
    »Ja, große Fortschritte.«
    »Nicht wahr? Natürlich wird es noch viele, viele Jahre dauern, bis sie wirklich so weit ist, daß sie nicht untergeht im Leben, daß sie, immer mit der Hilfe eines Gesunden, leben kann. Aber leben, leben wird sie können, Liebster!«
    »Ja.«
    »Egal, ob sie in Heroldsheid bleiben kann oder ob sie woandershin muß. Egal, wie viele Rückfälle noch kommen. Egal, alles egal! Sie wird immer weiter ein klein bißchen gesünder werden, Liebster. Sie wird niemals ganz gesund werden – daran ist nicht zu denken! Aber gesünder. Wie und wann und wo, das wissen wir nicht.«
    »Nein«, sagte ich, »das wissen wir nicht.«
    »Sie wird nie mehr allein sein«, sagte Ruth und sah mich dabei fest an.
    »Das wird sie nie mehr sein«, sagte ich und dachte plötzlich an Clarissas Abschiedsbrief, in dem diese mich gebeten hatte, Babs niemals im Stich zu lassen.
    »Ich muß wirklich gehen … Babs … Die Visite …«
    »Ja, Liebste, ja. Und du kommst morgen?«
    »Bestimmt. Ganz bestimmt.«
    Wir küßten uns, wir klammerten uns aneinander. Dann lächelte Ruth mir noch einmal zu und ging schnell über den Schotterweg davon. Ich sah ihr nach. Sie blickte sich immer wieder um und winkte. Ich dachte, daß ich ihr nacheilen und sie führen mußte, denn sie steuerte natürlich infolge ihres Ticks eine falsche Tür an. Ich öffnete den Mund, um sie auf ihren Fehler aufmerksam zu machen, da sah ich, daß sie gar keinen Fehler beging. An der falschen Tür schritt sie vorbei, immer weiter winkend, und dann war sie verschwunden. Zum ersten Mal, seit ich Ruth kannte, hatte sie nicht den falschen, sondern den richtigen Weg gewählt.
    Ich weiß nicht, ob es eine Minute war, die ich dann still im Schatten der Mauer stand, ob es fünf Minuten waren, zehn. Ich schreckte plötzlich auf, den Teller von Babs in der Hand. Ich hatte ihn pausenlos betrachtet, ihn und die vielen hingeschmierten bunten Kleckse und Linien.
    Dabei war mir die kleine Tafel aus sehr dünnem Gold eingefallen, die ich an Ruths Bücherwand gesehen
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