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Nicht lecker, aber Weltrekord

Nicht lecker, aber Weltrekord

Titel: Nicht lecker, aber Weltrekord
Autoren: Katinka Buddenkotte
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dass ihre Taubheit sie blind gemacht hat. Dennoch – Frau Zeiss versorgte uns stets mit ausgelesenen Klatschzeitschriften und abgelaufenen Weinbrandbohnen. So kames neben dem alljährlichen Rumtopf-Fest zu zahlreichen weiteren Feierlichkeiten, deren Anlässe heute noch zu den weltweit Gesuchtesten zählen.
    Unsere Rituale waren uns wichtig, gerade weil sie keinem Zweck zu dienen schienen. Jeden Donnerstag erschien unser Privatschamane Albert, um uns Geschichten vom Ratinger Hof zu erzählen. Er selbst war seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen, keiner von uns beabsichtigte, je dorthin zu gehen, aber immer wieder leerten wir gemeinsam ein Fass Altbier, bevor wir sanft entschliefen.
    Samstagmorgens gründeten wir für gewöhnlich eine Band, die sich bei fortgeschrittener Textsicherheit sofort auflösen musste. Menschen, die ein Instrument beherrschten, waren von diesen Sessions ausgeschlossen. Allein bei André machten wir eine Ausnahme, weil er für die Mieteinnahmen zuständig war. Wir nannten ihn Doktor, denn er konnte lesen und schreiben, und außerdem Depp, weil er nie damit angab. In einer anderen Kultur als der unsrigen wäre André wahrscheinlich zum Häuptling auserkoren worden. Er erfüllte alle Kriterien, die einen Stammesführer auszeichnen: Sein Zimmer war durch eine echte Holztür von den übrigen Räumen abgetrennt, und seine Freundin war nicht nur ein äußerst robustes Weibchen, sondern verfügte auch über alle anderen Merkmale, die eine gute Leitstute ausmachen. So war es dann auch sie, die tapfere Susann, die anregte, den alten Kühlschrank zu entsorgen, weil er nicht mehr kühlte. Mit Engelszungen redete sie wochenlang auf das Gerät ein, sich aus unserer Küche zu entfernen. Als dergute alte Frosti jedoch stur blieb und ihrem Bitten nicht folgte, war es wiederum Susann, die den neuen Kühlschrank einfach auf den alten stellen ließ. So waren alle glücklich, und keiner musste sich mehr bücken.
    Wir lebten nach unserer eigenen Uhr. Ein Mond war vorüber, wenn André mit seiner Band ein Benefizkonzert gab, Claudius zum Arbeitsamt ging und ich die Pall-Mall-Zigaretten aus der Werbeagentur, in der ich damals noch beschäftigt war, verhökern musste.
    Ein Jahr war verstrichen, wenn Olli schwor, dass er zum letzten Mal das Altglas alleine fortgebracht hätte und Martin sein Zimmer verließ, um sich einen neuen Kaftan schneidern zu lassen.
    So lebten wir denn glücklich und zufrieden – bis die Designer kamen.
    Misstrauisch beäugten wir ihren Einzug vom Dachbodenfenster aus. Sie marschierten in unsere Jagdgründe, mit ihren fremdartigen Maschinen und echten Möbeln. Feine Herrschaften, die sich sogar ein motorisiertes Automobil gemietet hatten, um die Industrialisierung zu beschleunigen.
    Unruhe machte sich breit. Die einen versteckten sich, andere begannen, Pfeile zu schnitzen und den Pechkessel zu befeuern. Wir waren bereit, unser Reich zu verteidigen, aber sahen zunächst davon ab. Hätten wir das Unheil bloß im Keime erstickt. Aber es war ausgerechnet André, der sprach:
    »Guckt mal, die tragen Gitarrenkoffer nach oben. Und Boxen. Es sind Musikanten, das können keine schlechten Menschen sein.«
    Wir wussten, dass wir ihn verloren hatten, als die Designer zu uns hochschauten. Sie lächelten uns zu, winkten, und André rief: »Hallo! Hallo, neue Nachbarn, hallo!« Und als wenn es nicht genug gewesen wäre, dass er unseren Aufenthaltsort preisgegeben hatte, fügte er kreischend hinzu: »Wir sind hier oben! Wir leben hier!«
    Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir in die ungläubigen Gesichter unserer neuen Nachbarn starrten. Leider nie wieder aus so sicherer Entfernung.
    Der Tag ihres Einzuges spaltete den Stamm. Während die einen für einen nächtlichen Überfall plädierten, schlugen die anderen vor, sich mit Brot und Salz ins zweite Stockwerk aufzumachen. Letzten Endes entschieden wir uns, wie wir uns immer entschieden, und ignorierten sie einfach, zwei Wochen lang, bis die Neugier unerträglich wurde.
    Eine Delegation machte sich auf, die steilen Treppen hinab ins Tal, bis in den zweiten Stock. Wir hatten den Spähtrupp sorgfältig zusammengestellt. Es waren gute Leute, doch sie waren unerfahren, unter ihnen auch ich. Als uns die Tür geöffnet wurde, gerieten alle aus dem Häuschen. Unser ursprünglicher Plan war, André reden zu lassen, er hatte seinen Satz viele Tage lang geübt:
    »Hallo, Fremde! Wir würden euch gerne zwei Eier leihen und auch eine Tasse Milch, falls
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