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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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Marokko
    Die Küstenstraße schwang sanft hinauf und hinab, aber verglichen mit einem amerikanischen Highway war sie unheimlich leer. Andere Autos tauchten drohend auf, kamen, auf dem Mittelstreifen fahrend, wie Geschosse auf uns zu. Am Straßenrand, allein in der sonnenversengten Weite, streckten kleine Mädchen in bunter Berbertracht uns Blumensträuße entgegen – Veilchen? Mohn? –, aber wir hatten Angst anzuhalten. Wovor hatten wir Angst? Vor einer Falle. Vor Banditen. Davor, dass wir zu wenig Geld gäben oder zu viel. Wir konnten nicht genug Französisch und weder Arabisch noch den Berberdialekt. «Nicht anhalten, Daddy, nicht!», schrien die Kinder, und sie hatten recht, denn wenn wir doch anhielten, auf Marktplätzen, sammelten sich jedes Mal Interessenten aus der Umgebung um unseren gemieteten Renault, linsten hinein und machten uns unverständliche Angebote.
    Wir waren eine amerikanische Familie, die 1969 in England lebte, und waren nach Marokko gekommen in dem naiven Glauben, dass es im April eine ebenso sichere Flucht in die Sonne sei wie zur selben Zeit im Jahr ein Flug in die Karibik vom Osten der Vereinigten Staaten aus.
    Aber Restinga, wohin ein britisches Reisebüro, das hinsichtlich der klimatischen Verhältnisse ebenso ahnungslos war wie wir, uns geschickt hatte, war verlassen und windig. Das Hotel, neu gebaut auf Anordnung des fortschrittlichen, tourismusorientierten Königs, war halbkreisförmig angelegt. Nachts knallten Türen in den geschwungenen Korridoren, und ein einsamer Aufseher im Burnus wachte über die leeren Zimmer und die sonderbare, in der Vorsaison erschienene amerikanische Familie. Am Tag waren die Wellen zu kabbelig, als dass man hätte schwimmen können, und das Mittelmeer war nicht weindunkel, es war ölschwarz. Wenn wir am Wassersaum entlanggingen, waren unsere Fußsohlen voller Teer. Wenn wir uns am Strand hinlegten, blies uns der Wind Sand in die Ohren. In einiger Entfernung wurden langsam Apartmentgebäude aus rosa Beton zusammengesetzt, und es gab Anzeichen, dass in einem Monat Feriengäste von irgendwoher die öden Plazas, die mit Brettern vernagelten Arkaden bevölkern würden. Vorläufig aber gab es nur den peitschenden Wind, eine nutzlose Sonne und – vereinzelt, müßig, stumm im Mittelgrund – Araber. Oder waren es Berber? Dunkle Gestalten jedenfalls, in langen Gewändern, die unserer Jüngsten, Genevieve, Angst machten. So unglaubhaft es erscheint, jetzt, da sie so groß und hübsch ist in ihrem glitzernden Discokleid, damals war sie pummelig und acht. Caleb war zehn, Mark zwölf und Judith knospende vierzehn.
    «Je le regrette beaucoup»
, erklärte ich dem Manager des Restinga-Hotels, einem jungen Mann in blauem Sweater, der durch die Flure streifte und vom Zugwind aufgestoßene Türen schloss,
«mais il faut que nous partirons. Trop de vent, et pas de bain de la mer.»
    «Trop de vent»
, stimmte er zu und lachte, als sei er erleichtert, dass wir nicht so verrückt waren, wie es den Anschein gehabt hatte.
    «Les enfants sont malheureux, aussi ma femme. Je regrette beaucoup de partir. L’hotel, c’est beau, en été.»
Ich hätte den Konjunktiv nehmen sollen oder das Futur und hörte auf mit meinen Erklärungsversuchen.
    Der Manager gab unserer Abreise seinen gleichmütigen Segen, setzte uns aber in Kaskaden von Finanzfranzösisch auseinander, warum er uns nicht das Geld erstatten könne, das wir in London vorausbezahlt hatten. So saß ich da mit ein bisschen Bargeld, einer Hertz-Kreditkarte, vier Kindern, einer Frau und Flugtickets, die uns zu zehn weiteren Tagen in Marokko verurteilten.

    Wir wollten den Bus nach Tanger nehmen. Wir standen um zwölf Uhr mittags an einer verlassenen Straße, sechs versprengte Amerikaner, klobig und schutzlos in unseren englischen Wollsachen, die Koffer voller bei Lilywhite’s gekaufter europäischer Sommerklamotten und Penguin-Taschenbücher als Ferienlektüre. Die Sonne drosch auf uns ein. Und der Wind. Die Straße zerging an beiden Enden in einem rosa Flimmern. «Ich glaub das nicht», sagte meine Frau. «Ich könnte heulen.»
    «Mach den Kindern keine Angst», sagte ich. «Was sollen wir denn machen? Es gibt keine Taxis. Wir haben kein Geld.»
    «Es
muss
eine Möglichkeit geben», sagte sie. Aus irgendeinem Grund hat meine Erinnerung an diesen Moment ihr ein höchst unvorteilhaftes marineblaues Barett aufgesetzt.
    «Ich hab Angst», verkündete Genevieve, umklammerte ihrenRucksack und sah schrecklich erhitzt und
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