Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
Vom Netzwerk:
Vorhang am Wohnungseingang. Wo ist eigentlich meine Tür?, fragte er sich. Konzentrier‘ dich, das ist doch lächerlich, du solltest wissen, wo sie ist. Schließlich bist du nicht ein Irgendwer, du bist Herr F soundso, eine respektable Persönlichkeit mit einem eigenen Büro. Sogar dein Name steht an der Tür. »Oh Gott, meine Bürotür ... natürlich«, sagte er, wurde sogleich kreidebleich, drehte sich um und ging zu seinem Bett. Eine Filzdecke nach der anderen entfernte er, bis er in das Gesicht eines alten, verwahrlost aussehenden Menschen blickte. Gerade war er im Begriff, ihn zu berühren, als ihm klar wurde, dass er selbst es war. Bin ich so alt geworden?, fragte er sich. Unter dem Spiegel kam eine schlichte Holztür zum Vorschein, von der die Scharniere und die Klinke vorsichtig abgetrennt waren. Jemand hatte etwas darauf geschrieben: »Drehe mich nicht um, die Wahrheit wird dich zerstören.« Darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen, dachte er. Seine Hände zitterten. Langsam drehte er die Tür um und versuchte, die andere Seite einzusehen. Ein wenig noch anheben, das würde reichen, dachte er, als er urplötzlich seinen Namen an der Tür las — und verstand. Er verstand nun alles. Im Augenblick der Erkenntnis eines ganzen Lebens ließ er die Tür wieder fallen, zu schmerzhaft war für ihn, was er sich so lange herbeigesehnt hatte. Er sah die gestapelten Konserven an, riss mit einer Hand eine Dose aus der Mitte heraus, bald setzte er beide Hände ein, drückte die Dosen zur Seite, schleuderte wie von Sinnen die jahrelang vorsichtig gestapelten Konserven in die Ecke, bis die Wand vollständig freigelegt war. Er fiel auf die Knie und blickte nach oben. »Der Schlüssel ist das Symbol und das Symbol ist der Schlüssel«, sagte er, nein, vielmehr schrie er es heraus.
     
    Betäubt vom Wissen um seine Vergangenheit verließ der alte Mann sein Büro, ging die Treppe hinunter zur Arena, passierte die Kabinen und erreichte den Eingang zur Unterwelt, der durch das Symbol markiert war. Er ging auf die Knie. Der Schlüssel passte in eine Öffnung im Steinboden und als er ihn umdrehte, wurde ein Mechanismus in Gang gesetzt. Ein Klacken war zu hören, Steine sanken in den Boden und bildeten eine Treppe. Mit zittrigen Beinen, nur getragen von seiner Entschlossenheit, ging er die Stufen hinunter in die Tiefe.
     
    Ein langer Gang lag vor ihm, in dem sich zu beiden Seiten dicht nebeneinander schwere Türen befanden. Von allen Seiten drangen aus den Zellen heraus Schreie bis zu ihm hervor und vereinigten sich zu einem einzigen Wehklagen. Der alte Mann ging zur nächstgelegenen Tür und sah durch ein kleines Loch. Der Raum dahinter war nur einige Zentimeter breit und das hintere Ende verschwand in der Dunkelheit. Er drehte an einer Kurbel, bis sich die Tür zur Seite verschob. Gleichzeitig sah er durch das kleine Loch und bemerkte, dass sich mit der Tür die Wand bewegte, der Raum nun größer wurde, kaum war er eine Hand breit, war es nun schon eine Elle. Als die Tür mit einem Klacken einrastete, war der Raum groß genug, um ihn betreten zu können. Die Wände waren zerkratzt und überall lag Unrat herum. Es gab kein Fenster und da nur sehr wenig Licht vorhanden war, tastete er sich mit seinen Händen vor. Eine wimmernde Gestalt saß am Ende des Raums mit angezogenen Beinen auf dem Boden. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Der alte Mann bewegte seinen Kopf nach rechts und nach links, dennoch blieb das Gesicht für ihn verborgen. Vorsichtig näherte er sich, doch als seine Hand den Kopf gerade erreichen sollte, verging die Gestalt. Ein Schrei erklang, schien ihn zu umrunden, wandelte sich in ein Fluchen um und verstummte schließlich. Er ging zur nächsten Tür und öffnete sie, weiter zur nächsten, Schreie und Klagelaute neben ihm, hinter ihm, überall. Er hielt sich die Ohren zu, ging weiter und öffnete eine andere Tür. Trat mal nach links, danach wieder nach rechts, öffnete die Türen zu beiden Seiten, sank nieder, senkte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Die Schreie und das Wehklagen der Gequälten wurden immer lauter, bis sie für einen Sterblichen nicht mehr zu ertragen waren. Als er sich gerade aufgeben wollte und niedersank, verstummten sie. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er sich um. Es war weder etwas zu sehen noch etwas zu hören. Himmlische Stille überall.
     
    Er erhob sich und fand sich am Ende des Gangs vor einem Raum mit einer großen Glasscheibe wieder. Ein Schreibtisch stand unmittelbar
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher