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Nicht die Welt (German Edition)

Nicht die Welt (German Edition)

Titel: Nicht die Welt (German Edition)
Autoren: Karsten Krepinsky
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dahinter. Nachdem er den Raum über eine Holztür betreten hatte, bemerkte er eine Lichtquelle in der linken Schublade. Er zog an einem Metallknauf. Etwas mit einer hellen Aura kam zum Vorschein, das weich und eben war, wie er mit seinen Händen ertasten konnte. Als er es aus der Schublade nahm, sah er, dass es das Papier war. Nicht irgendein Papier, nein, es war das Einzige und Wahre, da war er sich sicher. Schließlich kannte er sich mit Papieren aus, unzählige waren in all den Jahren und Jahrzehnten durch seine Hände gegangen. Er nahm das Papier an sich, ging den Gang entlang, vorbei an den offenen Türen und stieg über die Treppe zur Arena hinauf. Niemand schien dort auf ihn zu warten. Die Zuschauerränge waren verwaist. Da er sich ein wenig in Geduld üben musste, ging er auf die Tribüne und setzte sich.
     
    Ein lauter Schlag schreckte ihn auf. Der Vorhang in der Mitte der Arena war gefallen, hatte das Tor zur Unterwelt bedeckt und den Boten des Lichts freigegeben. Der nächste Akt konnte beginnen. Feierlich schritt er mit dem Papier in der Hand in die Arena. Der Bote schien sich von den Strapazen der Reise ausruhen zu müssen, so dass es an ihm war zu handeln. Der alte Mann hob die Arme und präsentierte das Papier, während er sich in alle Richtungen drehte. Er genoss den tosenden Applaus, von dem er wusste, dass er nur dank seiner Vorstellungskraft vorhanden war, ging zum Boten und schob ihm das Papier in eine Innentasche seiner weißen Kleidung. Tief verneigte er sich anschließend, bevor er wieder zurück auf die Tribüne ging. Im letzten Akt sollte er nur noch ein Zuschauer sein.

11.
    20 Meter. Der junge Mann und die junge Frau standen zwischen zwei Säulen des alten Steintors. Unmittelbar vor ihnen befanden sich der Park und das Gelände des Innenministeriums. Mitten im Zentrum der Stadt brachten die übergroßen Bauten im neuklassizistischen Stil früher den Machtanspruch der Alten Ordnung zum Ausdruck. Vom Steintor aus waren lediglich die Gebäude im Osten und Süden zu erkennen, das Hauptgebäude im Norden blieb hingegen verborgen. Und genau dort vermutete er den Heckenschützen. »Warte hier im Schutz des Steintors auf mich«, sagte er durch seine Staubmaske und ergriff die Hände der jungen Frau. Lange standen sie sich so in ihren Schutzanzügen gegenüber. »Ich werde zu dir zurückkehren. Immer«, sagte er und umarmte sie innig.
    »Ich werde auf dich warten. Immer«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Durch ihre Schutzbrillen sahen sie sich noch eine ganze Weile lang an, bevor er sich schließlich losreißen konnte und schnellen Schrittes über die Straße zum Innenministerium ging. Neben einer Parkbank lagen vom Wind verwirbelte Blätter einer neueren Ausgabe der Neustädter Nachrichten, der letzten Zeitung, die noch gedruckt wurde. Wie kam die Zeitung hierher?, fragte er sich. Die Schlagzeile lautete: »Immer mehr sind rechtlos – Anteil der Menschen ohne Bürgerrechte schon bei 26 %.« Als er das südöstliche Gebäude des Ministeriums erreicht hatte, drehte er sich um, doch die junge Frau war nicht mehr zu sehen.
     
    Die Bauten ließen nur auf Höhe der Prachtstraße eine Lücke. Den durch ein schweres Gitter gesicherten Zugang konnte er wegen des Heckenschützen jedoch nicht benutzen. So entschloss er sich, den Komplex von Osten aus zu umrunden, um einen geeigneten Einstieg zu finden. Ganz dicht am Gebäude entlang ging er weiter und sah die Sichtaugen, die an den Mauern in einigen Metern Höhe angebracht waren. Er hoffte, dass die Überwachungsanlagen nicht mehr in Betrieb waren und er unentdeckt blieb. An der Wand eines alten Bauwerks, das noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte, blieb er kurz stehen, um sich umzusehen. Das reichlich verzierte Gebäude stand ursprünglich frei im Raum und wurde erst später in den Komplex des Innenministeriums baulich eingegliedert. Gleich dahinter lag der Fluss, der an dieser Stelle besonders breit war und von einer mächtigen Brücke überspannt wurde, die kleinere Verbindungsbauten trug. Er erreichte das nördliche Ende einer Wandelhalle, schmiegte sich an die Wand und sah vorsichtig um die Ecke.
     
    Das Hauptgebäude lag weniger als einhundert Meter entfernt von ihm. Es handelte sich um einen gigantischen quaderförmigen Klotz, der merkwürdig zweigeteilt wirkte. Der Oberbau mit der braunen Fassade und den vielen kleinen, wie an Perlenschnüren aufgereihten Fenstern stand im Kontrast zu dem mit Säulen verzierten fensterlosen Unterbau aus hellem Stein.
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