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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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Gedanke an ihre Blicke, der ihn ängstigte.
    In der Dunkelheit erkannte Hagen Dutzende lodernder Fackeln, wie eine Versammlung zuckender Irrlichter. Als sich die Träger der Menschenmenge näherten, begann sich vor ihnen geschwind eine Gasse zu bilden. Der Ring aus Leibern öffnete sich und gab den Blick frei auf den Baum selbst, eine gewaltige Eiche, deren Krone sich weit über den Rand einer Felsklippe spannte. Alle anderen Bäume im Umkreis von zehn Schritten waren gefällt worden. Die Eiche erhob sich einsam und eitel über einem Ruinenfeld aus Baumstümpfen, die wie Grabmonumente aus dem schlammigen Boden ragten. Das Gelände führte bergauf, die Eiche stand auf dem höchsten Punkt der Klippe. Hinter ihr in der Finsternis rauschte der Rhein.
    Am Fuß des Baumes standen Bärbart und Graf Adalmar. Hagens aufgeregter Blick fand seine Mutter an der Seite des Pfaffen Viggo, in der vorderen Reihe der Menschenmenge. Ihre Leibdiener hielten rußende Fackeln. Der Wind schien die Flammen in Stücke zu reißen.
    Dankwart stand neben der Gräfin und schenkte seinem Bruder ein flüchtiges Lächeln. Es sollte ihn aufmuntern, verfehlte aber gänzlich seine Wirkung. Im zuckenden Fackelschein wirkte es verzerrt, die schattenhafte Fratze eines Kobolds.
    Tilda blieb am inneren Rand des Menschenringes zurück, während die beiden Träger Hagen zum Baum brachten. Zwischen der Eiche und den Zuschauern lagen mehr als fünf Mannslängen Ödland; niemand, dem es nicht ausdrücklich erlaubt war, durfte näher herantreten.
    Der Baum war von Bärbarts Vorgängern, Männern wechselnder Weisheit, angepflanzt und aufgezogen worden. In der Umgebung der Burg gab es noch mehr solcher Eichen, zehn oder elf insgesamt. Sie alle unterschieden sich von den übrigen Wald bäumen durch ihre Form: Ihre Stämme teilten sich in Brusthöhe zu einer feigenförmigen Öffnung, groß genug, daß ein Mensch mit Mühe hindurchkriechen konnte. Jede der Eichen war einem Mitglied der gräflichen Familie geweiht, sie blieb sein ein ganzes Leben lang. Und doch wurden die wenigsten dieser Bäume je ihrer Bestimmung zugeführt, denn die Folgen des Rituals waren unerforscht und galten als gefährlich.
    Trotzdem hatte Graf Adalmar sich von Bärbart überzeugen lassen, daß in Hagens Fall ein Wunder vonnöten war, denn was immer auch dem Jungen widerfahren war, es konnte nichts Natürliches gewesen sein. Daher gab es nur einen Weg: Hagens Leib und Seele mußten gereinigt werden. Gereinigt durch die Zweite Geburt.
    Bärbart war ein großer Mann mit buschigen Brauen und einem dunklen, struppigen Bart. Sein wildes Haar stand zumeist in alle Richtungen ab, doch an diesem Abend hatte er es sich mit Tierfett zu zwei mächtigen Hörnern geformt, eine Tribut an die Waldgeister. Die schwarzen Spitzen stachen schräg über seiner Stirn empor, jede so lang wie ein Unterarm.
    Kein Wunder, daß Viggo, der Burgpfaffe, bei diesem Anblick die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hatte. Seine Lippen zuckten aufgeregt in einem stummen, nicht enden wollenden Gebet. Hagens Mutter tat es ihm nach, sie hob nicht einmal die Lider, als man ihrem Sohn von der Trage half. Ihre Lippen waren farblos, fast weiß. Sie war die einzige in der ganzen Burg, die dem Christenpriester blind vertraute; alle anderen hatten wenig für sein Geschwafel übrig, wenngleich einige sicherheitshalber seine Messen besuchten. Viggo hielt sie in einem ehemaligen Kerker ab, den Adalmar ihm auf Drängen der Gräfin – und voller Verachtung – überlassen hatte.
    Der gehörnte Bärbart führte Hagen nun auf die andere Seite des Baumes, jene, die der Felskante und dem strudelnden Fluß darunter zugewandt war.
    »Kannst du allein hindurchklettern?« fragte er leise.
    Hagen nickte, obgleich er dessen keineswegs sicher war. Die Gewißheit, den schwarzen Fluß im Rücken zu haben, ängstigte ihn fast noch mehr als das bevorstehende Ritual.
    Bärbart nahm die stumme Antwort seines Schützlings zufrieden und nicht ohne Stolz zur Kenntnis. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er Hagen für einen geeigneteren Erben der Grafschaft hielt als den älteren Dankwart. Trotzdem mochte Hagen ihn ebensowenig wie sein Bruder; beide Jungen fürchteten Bärbarts Klugheit ebenso wie seine Vertrautheit mit Geistern und Göttern. Die kunstvollen Hörner, die er sich auf die Stirn modelliert hat, waren nur die äußeren Zeichen einer dämonischen Aura, die Bärbart umgab wie ein schlechter Geruch.
    »Dieser Baum ist dir seit deiner
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