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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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mehr ertragen konnten und sich gleichzeitig abwandten – ein Spiel, das sie den Erwachsenen abgeschaut hatten. »Ich hatte Gold bei mir, als ich im Wasser schwamm. Viel Gold.«
    »Von dem Boot?« Dankwarts Stirn glänzte vor Aufregung. Er sah aus, als hoffte er ein spannendes Abenteuer zu hören, schien überhaupt nicht zu begreifen, wie ernst es seinem jüngeren Bruder war.
    Hagen überlegte noch einen Moment, dann schob er den Gedanken an den Schatz für eine Weile beiseite und fragte statt dessen: »Hast du mich wirklich am Ufer gefunden?«
    »Sicher. Die Strömung hat dich angeschwemmt. Du hast entsetzliches Glück gehabt.«
    Ja, dachte Hagen, das habe ich wohl. »War das Wrack noch in der Nähe?«
    »Ich habe es nicht mehr gesehen.«
    »Auch keine Teile? Irgendwelche Planken oder Bretter?«
    »Nichts.«
    »Es war wirklich fort?«
    Dankwart wurde ungehalten. »Verdammt, das habe ich doch gerade gesagt! Weshalb liegt dir soviel daran? Und von was für Gold hast du eben gefaselt?«
    »Nur ein… ein Fiebertraum«, stammelte Hagen und wußte sofort, daß Dankwart ihm kein Wort glauben würde.
    »Sag mir die Wahrheit!« Dankwart spielte die Rolle des großen Bruders selten, sie lag ihm nicht besonders, denn Hagen war genauso hochgewachsen wie er und sogar um einiges stärker. Lediglich in Vernunftsdingen war Dankwart ihm voraus.
    Hagen spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er wünschte sich, sein Bruder würde endlich verschwinden. »Ich weiß nicht«, gestand er tonlos, »vielleicht war es wirklich ein Traum.« Und dann erzählte er Dankwart widerwillig alles, was geschehen war. Vom Kreis der fünf Tannen, vom Schatz in ihren Wipfeln. Mit jedem Bruchstück der Ereignisse, das er preisgab, kehrte ein wenig Kraft in seinen Körper zurück. Sein Schweigen war schlimmer gewesen als jede Krankheit, das spürte er jetzt. Selbst das heftige Niesen, das ihn in kurzen Abständen überkam, wurde erträglicher.
    Eines aber ließ er trotz allem in seiner Erzählung aus: die plötzliche Kälte, die aus der Tiefe des Flusses aufgestiegen war. Er stellte sie sich immer noch vor wie einen Riesenfisch aus Eis, der mit aufgerissenem Rachen und Zähnen aus Kristall vom Grund des Stroms zu ihm emporschoß.
    So beendete er seinen Bericht damit, daß er das Bewußtsein verloren hatte und sich an nichts weiter erinnern konnte. Genaugenommen war das sogar die Wahrheit.
    Dankwart sah ihn eindringlich an, mit kunstvoller Ernsthaftigkeit, die die Sorge eines Mannes nachahmte. »Am besten vergißt du das alles. Das Gold ist fort, und du bist am Leben. Du solltest dankbar sein.« Er grinste bemüht. »Ich jedenfalls bin es, sonst hätte Vater mir wohl den Kopf abgerissen.«
    Wenn ich herausfinde, daß du das Gold gestohlen hast, werde ich das höchstpersönlich übernehmen, dachte Hagen. Aber er sagte nur matt: »Ich will jetzt schlafen.«
    Dankwart nickte verständnisvoll. In seinen Augen war nach wie vor Sorge, aber sie schien nicht mehr allein Hagens Befinden zu gelten. »Ich werde Bärbart bitten, den Baum erst für heute abend fertigzumachen. Er wird das verstehen.«
    »Danke«, sagte Hagen und schloß die Augen.
     

     
    Tatsächlich war es nicht der Gestank, der ihm das größte Unbehagen bereitete, aber er war fraglos das erste, was Hagen wahrnahm, als man ihn auf einer Trage vom Burgtor zum Baum schleppte. Ein widerlicher Geruch nach Schmutz und Abfall, durchmischt mit dem Fäulnisodem toter Fische. Warum hatte Hagen ihn nicht bemerkt, als er mit Dankwart am Ufer gespielt hatte?
    »Es riecht erst seit ein paar Tagen so«, sagte Tilda, die an der Seite der Trage ging und ihn mit sorgenvollen Blicken bedachte. An seinem Naserümpfen hatte sie erkannt, welche Gedanken er hegte. »Die Alten sagen, es ist der Fluß, das, was auf seinem Grund liegt. Tote Tiere und Pflanzen, die tief unter der Oberfläche verfaulen. Das Hochwasser hat sie nach oben gewirbelt.«
    Bei Anbruch der Dämmerung war die Amme in Hagens Kammer gekommen und hatte ihm beim Aufstehen geholfen. Wenig später waren auf Tildas Geheiß zwei Männer eingetreten, riesenhafte Stallknechte mit Schultern so breit wie Wagenräder. Hagen hatte protestiert, er könne allein gehen, doch sie hatten darauf bestanden, ihn zum Baum zu tragen.
    Jetzt lag er nackt unter einer Felldecke, und immer noch hallte der Anblick der leeren Flure und Zimmer der Burg in ihm nach; alle Bewohner mußten sich draußen versammelt haben, um dem Schauspiel beizuwohnen. Aber es war nicht der
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