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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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stand, war sie bis zu den oberen Ästen im Fluß versunken; unweit des Jungen befand sich unter der Wasseroberfläche eine jähe Steilwand. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, der Strömung standzuhalten, hätte er dennoch nicht bis zum Boot waten können. Er hätte schwimmen müssen, und das mochte übel enden.
    Sein Bruder trat neben ihn und blickte gleichfalls zum Wrack. »Wem mag es gehören?«
    »Und was mag es geladen haben?« Abenteuerlustig gab der Junge sich selbst eine Antwort: »Vielleicht einen Schatz.«
    » Einen Schatz «, äffte ihn sein Bruder mit piepsiger Stimme nach und rollte mit den Augen. Im Mondlicht sah die Grimasse unheimlicher aus, als er ahnte. »Ein paar alte Fische werden drinliegen, wahrscheinlich schon angefault.«
    »Sei nicht so langweilig.«
    »Was willst du denn tun? Vielleicht rüberschwimmen?«
    »Nein«, gab der Junge zurück, und gleich darauf verzogen sich seine Mundwinkel zu einem triumphierenden Grinsen. »Aber mit dem Baumstamm da vorne könnte es gehen.«
    Sein Bruder folgte seinem Blick zu einer gefällten Birke; die Holzfäller würden sie erst am nächsten Morgen zur Burg hinaufbringen.
    Der Junge war vor Begeisterung nicht mehr zu halten. Er lief zu dem Stamm hinüber und zerrte an den Ästen. Es war ein junger Baum, von Krankheit zerfressen, und er war nicht allzu schwer. »Komm schon, zu zweit können wir es schaffen.«
    Auch in den Augen seines Bruders flackerte jetzt Wagemut, doch er gab sich Mühe, ihn sich nicht einzugestehen. »Wenn Vater davon erfährt, wird er –«
    »Gar nichts wird er.« Der Junge hatte den Stamm schon ganz allein die halbe Strecke zum Ufer herabgezogen. »Vater und die anderen feiern, sogar die Wächter auf den Zinnen würfeln und trinken. Niemand wird etwas bemerken.«
    »Wenn einer von uns ins Wasser fällt«, begann sein Bruder schwerfällig, verstummte aber sogleich. Natürlich reizte auch ihn das Abenteuer, und an einem gab es nichts zu rütteln: Die Gefahr einer Strafe war denkbar gering.
    Mit einem kräftigen Atemholen – das hatte er dem Stallmeister abgeschaut, bevor der den Kindern etwas durchgehen ließ – trat er an die Seite des Jungen. Gemeinsam schleppten sie den Stamm das letzte Stück zum Wasser hinunter.
    »Und nun?«
    Der Junge runzelte altklug die Stirn. »Wir müssen ihn ein Stück weiter flußaufwärts ziehen. Wenn wir den Stamm dort ins Wasser schieben, treibt ihn die Strömung hierher. Vielleicht verkeilt er sich dann zwischen dem Boot und dem Ufer.«
    »Hoffentlich.«
    Ächzend vor Anstrengung setzten sie den Plan in die Tat um, und tatsächlich: Wenig später bildete der Birkenstamm eine wacklige Brücke zwischen Wiese und Wrack. Auf der schwarzen Flußoberfläche schimmerte er bleich wie ein mächtiger Knochen.
    Die beiden zerrten an den Ästen und prüften, ob der Stamm festsaß. Fest genug.
    »Ich geh’ zuerst«, sagte der Junge und kletterte flink ins Gehölz.
    »He!« rief sein Bruder. »Wir sollten das auslosen.« Aber es war kein ernstgemeinter Widerspruch; in Wahrheit war er froh, daß er das Wagnis nicht als erster eingehen mußte.
    Der Junge kletterte auf allen vieren über den Stamm. Der Baum lag zur Hälfte unter Wasser, die Strömung spülte über ihn hinweg. Es war schwierig, nicht den Halt zu verlieren. Die nasse Rinde war glatt und löste sich in breiten Fetzen, und mehrmals war der Junge nahe daran, kopfüber in die Fluten zu stürzen. Sein Herzschlag raste, vor Anspannung hielt er die Luft an. Er hatte schreckliche Angst.
    Schließlich berührte seine ausgestreckte Hand den Bootsrumpf. Die Reling des Wracks schwankte hinauf und herunter, war mal in Schulterhöhe, mal hoch über seinem Kopf. Dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als sich mit beiden Händen daran festzuhalten und sich bei der nächsten Woge mit nach oben ziehen zu lassen. Inmitten der schäumenden Gischt war das alles andere als ein Kinderspiel.
    Sein Bruder rief ihm eine Warnung zu. Das Tosen des Flusses und der jammernde Wind rissen die Worte von seinen Lippen, verwehten sie im Nichts.
    Die Finger des Jungen krallten sich um die Reling. Er schloß die Augen und zählte in Gedanken: eins, zwei, drei –
    Die Woge kam mit entsetzlicher Wucht und schleuderte das Wrack nach oben. Der Ruck riß dem Jungen fast die Arme aus den Gelenken. Seine Füße wirbelten aus dem Wasser, er selbst rutschte am Rumpf empor, schrie auf – und hing plötzlich mit dem Oberkörper über der Reling. Geistesgegenwärtig ließ er sich nach vorne
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