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Nibelungen 01 - Der Rabengott

Nibelungen 01 - Der Rabengott

Titel: Nibelungen 01 - Der Rabengott
Autoren: Kai Meyer
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sich nur auf ihren Vorschlag einließ, um ihr einen Gefallen zu tun. »Einverstanden. Erzähl mir dein Geheimnis.«
    »Du fängst an«, widersprach sie.
    »Warum ich?«
    »Weil mein Geheimnis das Aufregendere ist.«
    Er überlegte, ob er sich wirklich auf dieses Kinderspiel einlassen sollte. Sicher, er hätte ihr einfach irgendeine Lüge auftischen können, aber er dachte sich, daß sie das nicht verdient hatte.
    Sie hat dir das Leben gerettet, wiederholte eine lästige Stimme in seinem Kopf, immer wieder und wieder: dein Leben gerettet.
    »Was willst du hören?« preßte er schließlich hervor.
    »Die Wahrheit.« Sie schien genau zu wissen, was in seinem Inneren vor sich ging.
    »Unter einer Bedingung«, verlangte er. »Du wirst mich nicht unterbrechen und keine Fragen stellen, die über das hinausgehen, was ich dir erzähle.«
    »Mein Ehrenwort«, sagte sie.
    »Vorher will ich ganz genau wissen, durch was für eine Landschaft wir reiten. Und sobald sich etwas daran ändert, muß ich es erfahren.«
    »Ich dachte, ich soll dich nicht unterbrechen«, bemerkte sie spöttisch. Dann schien sie sich umzuschauen, denn es dauerte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Über den Boden kriechen Eidechsen. Sie sind ziemlich klein und gelb und haben schwarze Punkte. Sie verstecken sich in kleinen Erdspalten, wenn wir vorbeireiten, und ihre Krallen auf den Steinen machen lustige Geräusche. Die Ränder der Spalten sind dunkelbraun, aber ihr Inneres ist schwarz und –«
    »Ich wollte es nicht so genau wissen.«
    Nimmermehr kicherte, ganz das junge Mädchen. »Wir reiten durch ein Talkessel, oben in den Bergen. Alles ziemlich felsig und zerklüftet, kaum Bäume, nur Heidekraut und Steine, dazwischen Büsche mit langen Dornen; ich weiß nicht, wie sie heißen. Es ist bald Mittag, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Von Süden ziehen dunkle Wolken auf, kann sein, daß es am Nachmittag regnen wird.« Sie stockte, holte tief Luft und fragte dann: »Recht so?«
    Als Hagen nickte, klirrte sein Helmrand auf das Kettengewebe seines Rüstzeugs. Nimmermehr lachte abermals, sagte aber nichts mehr. Sie schien mit einemmal in alberner Stimmung zu sein, als freue sie sich über irgend etwas.
    »Was ist los?« fragte Hagen mürrisch. »Irgendwas, das ich wissen sollte?«
    »Ich bin gespannt auf dein Geheimnis.« Sprach’s und kicherte erneut.
    »Es ist nicht besonders erheiternd«, zischte er böse.
    Sie räusperte sich und wurde ernst. »Verzeih mir.«
    Hagen zögerte ein letztes Mal, dann sagte er sich erneut, fast beschwörend, daß es nichts ausmachte, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Sollte sie es sich anhören und selbst entscheiden, was davon zu halten war. Sie war der erste Mensch, dem er davon erzählte; nicht einmal Dankwart kannte die ganze Geschichte.
    Hagen holte tief Luft, begann.
    Er erzählte ihr von der Nacht, als in der Burg seiner Ahnen ein großes Fest begangen wurde. Er und sein Bruder waren vor dem Trubel geflohen und hatten vor den Toren herumgetollt. Nach wochenlangem Regen und der Schneeschmelze im Gebirge war ein verheerendes Hochwasser über die Länder am Fluß hereingebrochen, und die Kinder hatten es als besonderes Wagnis angesehen, sich dem verbotenen Ufer zu nähern.
    Hagen berichtete Nimmermehr von dem angetriebenen Wrack, von seinem Plan, hineinzuklettern, und schließlich von seiner Irrfahrt den Strom hinab. Er sprach auch, stockend, von seiner Kletterpartie in den leeren Rumpf und dem unheimlichen Tannenzirkel, dessen Wipfel das Wrack aufgehalten hatten. Er beschrieb ihr das goldene Geschmeide in den Ästen, den Reiz, den es auf einen kleinen Jungen ausgeübt hatte, die unbändige Freude, als es ihm gelungen war, den Schatz für sich zu gewinnen.
    Dann aber verfiel er in Schweigen.
    Nimmermehr rutschte ungeduldig auf dem Pferderücken umher, wagte aber nicht, ihre Vereinbarung zu brechen: keine Fragen, bevor die Erzählung nicht zu Ende war.
    Es dauerte lange, ehe Hagen sich überwandt, seinen Bericht fortzuführen. Der eisige Wind, der den Talkessel peitschte, kroch durch die Eisenmaschen seines Kettenhemdes, durch sein ledernes Wams bis zur Haut. Er fror plötzlich erbärmlich, und die Finsternis vor seinen Augen gewann an neuerlicher Tiefe. Seine Blindheit wurde wieder zum Abgrund, schwarz und hungrig und bodenlos.
    Und während er sprach, glaubte er erneut zu spüren, wie etwas daraus zu ihm emporblickte, wie es langsam begann, zu ihm aufzusteigen, ohne Beine, ohne Augen, die Kehrseite seiner Seele.
    Oder,
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