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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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einer schönen neuen Welt, den Tod der alten Art zu denken, der alten Glaubenssysteme – sogar den Tod der alten Götter.»
    «Also unterscheiden sich ‹Knoten› und ‹Kette und Schuß› nur durch eine unterschiedliche Art der Betrachtung», sagte Sam.
    Dann fiel mir noch etwas anderes ein, und ich holte eines von Onkel Lafs Dokumenten auf den Bildschirm, das ich erst vor kurzem übersetzt hatte.
    «Erinnerst du dich an all das Zeug über die Templer, den heiligen Bernhard und den Tempel Salomos? Nun rate mal, wie das Logo auf ihrer Flagge in diesem Manuskript beschrieben wird? Totenkopf mit gekreuzten Knochen – wie das Abzeichen der Totenkopfstandarten von Heinrich Himmler. Aber in diesem Dokument bedeutet es nicht Tod. Es bedeutet Leben.»
    «Und wieso?»
    «Zwei bedeutende Figuren des griechischen Pantheons erscheinen in diesen Manuskripten immer wieder», erklärte ich ihm. «Athene und Dionysos. Überlege mal, was sie gemeinsam haben?»
    «Athene war die Stadtgöttin von Athen», sagte Sam. «Aber sie war auch die Göttin der Familie, des Heims, des Spinnrockens und des Webstuhls – ergo, der Ordnung. Und Ordnung heißt auf Griechisch cosmos. Dionysos dagegen war der Herr des Chaos. Seine heidnischen Feste, die zum Beispiel als Mardi Gras auch in christlicher Zeit überlebt haben, waren ein Freibrief für wilde Orgien und Raserei. Sie stehen in einem logischen Zusammenhang mit alten Kosmogonien, wo cosmos oft aus Chaos geboren wird.»
    «Ich habe noch einen anderen Zusammenhang gefunden – die Art, wie sie geboren wurden», sagte ich. «Als Semele mit Dionysos schwanger war, verglühte sie beim Anblick seines Vaters, des Blitze schleudernden Zeus. Vater Zeus nahm das Kind aus dem verkohlten Leib der Mutter, nähte es in seinen Oberschenkel und trug es dort aus. Deshalb nennen sie Dionysos auch den ‹zweimal Geborenem oder den ‹Gott der doppelten Tür› – »
    «Und Athene wurde von Zeus verschluckt und später aus seinem Kopf geboren», ergänzte Sam. «Auf diese Weise kann sie stets seine Gedanken lesen. Jetzt sehe ich es auch. Die eine wurde aus dem Schädel geboren, der andere aus dem Schenkel des Vaters. Totenkopf und gekreuzte Knochen, zwei Arten der Schöpfung oder Zeugung, spirituell und profan. Nur gemeinsam sind sie ‹heil› oder ‹heilig› – ist es das?»
    Ich erinnerte mich an die Worte des heiligen Bernhard in seinen Kommentaren zum Hohenlied: «Göttliche Liebe wird durch fleischliche Liebe erlangt.»
    «Ich bin sicher, daß es das ist, worauf diese Geschichte anspielt», sagte ich zu Sam. «Die Botschaft muß heißen, daß es keinen Tod ohne Sex gibt.»
    «Wie bitte?»
    «Bakterien sterben nie, sie teilen sich», sagte ich. «Klone vervielfältigen einfach dieselbe Materie. Menschen sind die einzigen Lebewesen, die den Tod verstehen und erwarten. Das ist die Grundlage jeder Religion, jeder- religiösen Erfahrung. Es ist nicht nur der Geist, sondern die Beziehung zwischen Leben und Tod, zwischen Geist und Materie.»
    «Unser Nervensystem hat zwei Stränge, den kranialen und den sakralen, die das Bewußtsein an die Emotionen binden. Sie verbinden Gehirn und Kreuzbein.» Sam stimmte mir also zu. «Dort, wo dein Totenkopf mit den gekreuzten Knochen das Knie mit dem Schenkelknochen darstellen soll, assoziiert man damit in vielen Sprachen große Zeugungskraft, zum Beispiel in Worten wie ‹Genius› und genoux. Es gibt viele Beweise, in der Natur und in der Sprache, für den berühmten Spruch von Pythagoras: Wie oben, so unten.»
    «Das war die eigentliche Aufgabe von Dionysos in der Mythologie: Er mußte das Heilige und das Profane verbinden. Und das ging nur, indem man es kreuzte. Indem man die Frauen vom Webstuhl und vom häuslichen Herd wegholte und auf die Berge lockte, wo sie mit den jungen Hirten herumhüpften und tanzten. Dionysos zerstörte seine Heimatstadt Theben nicht nur einmal, sondern zweimal. Oder besser gesagt, die Thebaner zerstörten sich selbst.»
    «Einmal war der Grund Inzest», sagte Sam. «Ödipus hat seinen Vater getötet, wurde an dessen Stelle zum König gekrönt und heiratete seine eigene Mutter. Bezogen auf unsere Familie verstehe ich, was du meinst. Aber was war beim zweiten Mal?»
    «Pentheus, der junge König von Theben, war ein Gegner des Dionysoskultes, dem die Frauen seines Landes und sogar seine Mutter verfallen waren», erklärte ich. «Pentheus behauptete, der Herr des Tanzes sei kein wahrer Gott und kein Sohn von Zeus. Er wollte die Frauen sogar
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