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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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riesigen, in das Lavagestein gehauenen Höhle ragten mindestens dreißig Meter in die Höhe. Ihr stockte der Atem, als sie erkannte, daß sie am Rand eines Abgrunds standen, der in pechschwarze Leere mündete. Irgendwo dort unten rauschte ein Bach. Das war der Weg, der einst die Sucher nach den Geheimnissen im Innern dieses erloschenen Vulkans geführt hatte. Das war der legendäre Ort, den so viele jahrhundertelang gesucht hatten – die Höhle, die dem sibyllinischen Orakel, der ältesten aller Prophetengestalten, als Wohnung gedient hatte.
    Als das Licht der Lampe über die glänzenden Wände glitt, wußte die Frau, daß sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Die Höhle war genau so, wie sie frühere Besucher beschrieben hatten – Heraklit, Plutarch, Pausanias und der Dichter Vergil, der diese Grotte in der Äneis als den Eingang zur Unterwelt unsterblich gemacht hatte. Es war durchaus möglich, daß sie und ihre drei Kameraden die ersten waren, die seit zweitausend Jahren diesen legendären Ort betraten.
    Als Kaiser Augustus im Jahr 27 v. Chr. in Rom die Macht ergriff, ließ er die Sibyllinischen Bücher einsammeln und alles davon verbrennen, was er für «unglaubwürdig» hielt oder – anders gesagt – was ihn in seiner Stellung nicht unterstützte oder die Rückkehr der Republik prophezeite. Dann befahl er, die Grotte in Cumae unzugänglich zu machen. Der offizielle Eingang, der nicht hier, sondern am Fuß des Vulkans lag, wurde unter einem Berg von Schutt begraben. Seitdem war die berühmte Höhle für die Menschheit verloren – bis jetzt.
    Die junge Frau legte ihre Ausrüstung ab und setzte sich den Helm mit dem kleinen Scheinwerfer wieder auf. Aus ihrer Lederweste nahm sie die Kartenskizze und reichte sie dem größten der drei Männer. Zum ersten Mal sprach sie, ohne zu flüstern.
    «Aszi, du kommst mit mir. Deine Brüder bleiben hier und bewachen diesen Eingang. Denn wenn wir unten nicht weiterkommen, ist diese Spalte die einzige Möglichkeit für uns, wieder hinauszukommen.» Und s ich dem Abgrund zuwendend, fügte sie unerschrocken hinzu: «Ich gehe voran.»
    Aber Aszi hielt sie am Handgelenk fest und sah sie an. Sein sympathisches Gesicht wirkte besorgt. Dann zog er sie an sich und küßte sie sanft auf die Stirn.
    «Nein, Clio. Laß mich vorausgehen», sagte er. «Ich wurde auf Felsklippen geboren, carita, das weißt du doch», fügte er lächelnd hinzu. «Ich klettere wie eine Ziege. Meine Brüder werden dich nach mir hinunterlassen.» Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er energischer fort: «Was immer dein Vater auf dieser Karte eingezeichnet hat, bevor er starb – es ist trotzdem nur die Meinung eines einzigen Mannes, die er sich dazu noch aus verstaubten Büchern zusammengelesen hat. Trotz all seinen Reisen hat dein Vater den Ort nie finden können. Und du weißt genau, daß Orakel oft gefährlich sind. In der Höhle von Delphi hauste eine ganze Brut tödlicher Pythons. Du weißt nicht, was wir in dem Heiligtum finden werden, das du in der Finsternis dort unten vermutest.»
    Clio schauderte bei dem Gedanken. Die zwei stämmigen jungen Männer stimmten ihrem Bruder zu. Aszi entzündete eine zweite Lampe und befestigte sie an seinem Helm. Die Männer ließen das dicke Hanftau an der Felswand hinunter, und ihr jüngerer Bruder packte es mit bloßen Händen, stemmte sich m it den genagelten Stiefeln gegen die Kante und verschwand mit einem kurz aufblitzenden Lächeln in der Dunkelheit.
    Nach einer Weile, die den Wartenden sehr lang erschien, schwang das Seil frei. Aszi hatte den Boden erreicht. Clio stieg in ihr Seil, das sie zu einem Klettergurt geknotet hatte, und die Männer sicherten es mit dem Hauptseil – eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß sie abrutschte. Dann stieg auch sie über die Kante.
    Während Clio an der glatten Felswand hinunterkletterte, sah sie sich im Licht ihrer Lampe den Schiefer an, als würde er den Schlüssel zu einem tiefen Geheimnis enthalten. Wenn Wände Ohren hätten, dachte sie, würden diese hier Geheimnisse von Tausenden von Jahren verraten können – so wie die Sibylle, die die Zukunft und die Vergangenheit sehen konnte.
    Die Sibylle, die älteste Prophetengestalt der Geschichte, eine Frau, die in vielen Ländern lebte und Hunderte von Generationen überlebte, wurde auf dem Idagebirge geboren, von dem aus die Götter dem Trojanischen Krieg zuschauten. Rund fünfhundert Jahre vor Christus reiste sie nach Rom, wo sie dem etruskischen Herrscher
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