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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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blütenübersäten Zweigen tauchten Jerusalem jedes Frühjahr in ein Meer von Gold.
    Akazie, der heilige Baum.
    «Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, daß ich unter ihnen wohne», zitierte er laut.
    Plötzlich stand die große, vornehme Gestalt des Nikodemus vor ihm, und Josef erkannte erst jetzt, daß er vor dem vertrauten Tor des Parks angekommen war, der Nikodemus Palast umgab. Ein Diener schloß das Tor hinter ihm, während Nikodemus, dem das Haar offen über die breiten Schultern hing, die Arme ausbreitete, um den Freund willkommen zu heißen.
    «Als ich in Arimathäa heranwuchs», sagte Josef, während er über das Meer der goldenen Akazienzweige blickte, «gab es überall am Fluß Böschungen aus chittah, den die Römer wegen der scharfen Dornen acacia nannten – es ist der Baum, von dem Gott wollte, daß wir daraus die erste Stiftshütte bauten, die Laube und den Altar, das Allerheiligste, und sogar den heiligen Bogen. Für die Kelten und Griechen ist der Baum ebenso heilig wie für uns. Sie nennen ihn den ‹goldenen Zweig›…»
    «Du hast zu lang unter den Heiden gelebt, mein Freund», sagte Nikodemus kopfschüttelnd. «Schon wie du aussiehst, ist beinahe eine Gotteslästerung.»
    Dagegen konnte Josef kaum etwas sagen. Er trug eine kurze Toga, hochgeschnürte Sandalen und einen unvorschriftsmäßigen Zopf im Nacken, hatte ein glattrasiertes, von der Seeluft rissiges und ledriges Gesicht und sah eher wie ein Kelte aus dem hohen Norden aus als wie ein vornehmer und geachteter jüdischer Kaufmann, der wie Nikodemus Mitglied des Rates der Siebzig war, wie man den Sanhedrin gemeinhin nannte.
    «Als der Meister noch ein Junge war, hast du ihn schon ermutigt, diesen ausländischen Eigenarten zu folgen, die nur zum Umsturz führen können», sagte Nikodemus, während sie bergab schritten. «Trotzdem habe ich in den letzten Wochen gebetet, daß du kommst, bevor es zu spät ist. Denn vielleicht kannst nur du den Schaden beheben, der im vergangenen Jahr während deiner Abwesenheit angerichtet wurde.»
    Es stimmte, daß Josef den jungen Meister wie ein eigenes Kind aufgezogen hatte, seit der Vater des Jungen, ein Zimmermann, der ebenfalls Josef hieß, gestorben war. Er hatte ihn auf Reisen ins Ausland mitgenommen, damit er das alte Wissen verschiedener Kulturen kennenlernte. Dabei war Josef von Arimathäa, der inzwischen mit seinen vierzig Jahren alt genug geworden war, um im Sanhedrin zu sitzen, nur sieben Jahre älter als der Meister. Und der Junge war für ihn nie etwas anderes gewesen – wie übrigens für jeden anderen auch, und das seit seiner Kindheit – als der Meister – nicht nur ein rhabi, was mein Meister oder Lehrer bedeutete, sondern der große geistige Führer, der er geworden war. Die Bemerkung des Nikodemus verstand Josef nicht ganz.
    «Welchen Schaden soll ich beheben? Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, nachdem ich deine Nachricht erhalten habe», versicherte Josef, ohne zu erwähnen, daß er dabei sein Vermögen und seinen Hals riskiert hatte. «Aber ich vermutete eine politische Krise, einen Notfall, daß uns etwas Unvorhergesehenes gezwungen hat, unseren Plan zu ändern…»
    Nikodemus blieb stehen und sah Josef mit seinen dunklen, traurigen Augen an, die bis ins Innere der Menschen zu blicken schienen. Heute waren sie vor Erschöpfung gerötet, vielleicht auch von Tränen. Josef sah plötzlich, wie sehr sein Freund in dem einen Jahr, seit er ihn zuletzt gesehen hatte, gealtert war. Er legte die Hände auf Nikodemus Schultern und wartete, wobei es ihm kalt über den Rücken lief, obwohl die Luft lind war, sich bereits erwärmte und der lavendelblaue Himmel hell und rosig wurde. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte.
    «Es gibt keine politische Krise», sagte Nikodemus, «wenigstens noch nicht. Aber etwas vielleicht weitaus Schlimmeres ist geschehen. Ich glaube, man könnte es eine Glaubenskrise nennen. Er selbst ist die Krise, verstehst du? Er hat sich so verändert, daß er kaum wiederzuerkennen ist. Nicht einmal seine Mutter versteht ihn mehr, ebensowenig seine treuesten Jünger.»
    «Er hat sich verändert? Aber wie?» fragte Josef. Während Nikodemus nach Worten suchte, blickte Josef
    hinunter über die Stadt, wo sich Akazien im Morgenwind wie streichelnde Finger bewegten. Und er betete um einen starken Glauben, um sich gegen das, was er herannahen fühlte, zu wappnen. Gerade als er einen Funken Hoffnung verspürte, ging die Sonne hinter dem Ölberg auf:
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