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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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Tarquinius die Bücher mit ihren Weissagungen, die sich über die nächsten zwölftausend Jahre erstreckten, zum Kauf anbot. Als er den Preis, den sie verlangte, nicht zahlen wollte, verbrannte sie die ersten drei Bände, dann die nächsten drei, bis nur noch drei übrig waren. Diese kaufte Tarquinius schließlich und verwahrte sie im Jupitertempel, wo sie blieben, bis der Tempel mitsamt seinem kostbaren Inhalt im Jahr 83 v. Chr. verbrannte.
    Die Vision der Sibylle war so inhaltsschwer und weitreichend, daß die Götter bereit waren, ihr einen beliebigen Wunsch zu erfüllen. Sie hatte um eine Lebenszeit von eintausend Jahren gebeten, aber vergessen, auch um Jugend zu bitten. Deshalb war sie gegen Ende ihres Lebens so geschrumpft, daß nur noch ihre Stimme übriggeblieben war, die aus einer kleinen Glasphiole heraus prophezeite. Die Phiole hatte man in diese alte Höhle der Geheimnisse gebracht. Von überall waren die Menschen gekommen, um ihr Lied zu hören, bis Augustus sie mit neapolitanischem Schutt für immer zum Schweigen brachte.
    Clio hoffte inständig, daß sich das, was ihr Vater beim Studium alter Texte herausgefunden und erst auf dem Totenbett wirklich verstanden hatte, als wahr erweisen würde. Denn die Tatsache, daß sie dem größten Wunsch eines Sterbenden gefolgt war, hatte sie bereits alles gekostet, was sie in ihrem jungen Leben gekannt hatte.
    Als sie unten ankam, legte Aszi seine kräftigen Hände um ihre Taille und half ihr, auf den glitschigen Steinen am Rand des unterirdischen Flusses Fuß zu fassen.
    Über eine Stunde folgten sie der Karte ihres Vaters durch die Höhlen unter dem Vulkan. Schließlich gelangten sie zu dem hohen hohlen Felsen, unter dem jahrhundertelang die Nachfolgerinnen der Sibylle, junge Frauen vom Land, auf einem goldenen Thron gesessen hatten, von dem nur ein Haufen zerbröckelter Steine übrig war, und die Orakel verkündeten, die ihnen der Geist der alten Gottheit eingab.
    Aszi blieb neben Clio stehen, dann beugte er sich unverhofft zu ihr nieder und küßte sie auf den Mund. Er lächelte.
    «Du bist beinahe frei», sagte er.
    Ohne ein weiteres Wort lief er die Geröllhalde hinauf und kletterte die letzten Meter an einem Felsen empor. Clio hielt den Atem an, als es ihm gelang, sich an einem Sims aufzurichten. Er streckte sich und tastete mit der freien Hand die dunkle Höhlung über seinem Kopf ab. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, nahm er etwas heraus.
    Er kam zurück und gab Clio, was er gefunden hatte: einen glänzenden Gegenstand, der aussah wie eine winzige Flasche, nicht viel größer als ihre Handfläche. Clio hatte nie geglaubt, daß ein Fläschchen die Stimme der Sibylle enthalten würde; aber möglicherweise enthielt es ihre prophetischen Worte. Ihre Prophezeiungen, so hatte Plutarch gesagt, seien auf kleine Metallplättchen geschrieben und so leicht und zerbrechlich, daß sie der Wind davontragen würde.
    Clio öffnete die Phiole, und die winzigen Blättchen fielen in ihre hohle Hand, ein jedes von der Größe eines Fingernagels und mit griechischen Buchstaben beschrieben. Sie berührte eines der Blätter, und dann sah sie Aszi an, der ihren Blick mit seinen dunklen Augen erwiderte.
    «Was steht darauf?» flüsterte er.
    «Auf diesem hier steht in Griechisch En to pan», sagte sie. «Es bedeutet: Eines ist alles.»
    Die Sibylle hatte vorausgesagt, was an jedem kritischen Wendepunkt der Geschichte geschehen würde und – was noch wichtiger war – wie dies mit jedem kritischen Ereignis in der Vergangenheit zusammenhängt. Es hieß, sie habe den Beginn eines neuen himmlischen Zeitalters vorausgesagt, das Zeitalter der Fische, das unmittelbar auf das Zeitalter, in dem sie gelebt hatte, folgen würde und das ein von einer Jungfrau geborener König verkörpern würde.
    Die Sibylle konnte geheimnisvolle Verbindungen sehen, die sich wie Spinnweben zwischen den Jahrtausenden spannten, Fäden, die Ereignisse in jedem Zeitalter mit denen im nächsten Himmelszyklus verbanden, das Zeitalter der Fische mit dem des Wassermanns, das erst zwanzig Jahrhunderte später heraufdämmern würde – und diese Zeit war ziemlich genau jetzt gekommen.
    Clio ließ die Blättchen in die Phiole zurückgleiten. Aber als sie und Aszi den langen Rückweg antraten, um wieder an die Erdoberfläche zu gelangen, wurde Clio bewußt, was dieser Augenblick bedeutete, und sie fürchtete sich. Es war so, wie es sich ihr Vater immer vorgestellt hatte. Wenn man ein Fläschchen wie
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