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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel
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Initiierten verstreute, damit dieser sie aufnehmen und ihm folgen konnte. Selbst heute, so viele Jahre, seit er von uns gegangen ist, fühle ich noch den Schreck, den mir sein Ton einjagte, als er mir zum ersten Mal sagte: Laß deine Sachen liegen und folge mir. Heute verstehe ich, daß er mich auf beiden Ebenen ansprechen wollte, daß ich nicht nur ihm, sondern auch seinem Beispiel folgen sollte, indem ich lernte, die richtigen Fragen zu stellen.
    Die Fragen des Meisters an jenem letzten Abend schienen mir wie immer genauso wichtig zu sein wie seine Antworten. Er sagte zu den anderen, ich wüßte die Antwort auf seine Frage über die Bedeutung der Sulamith, der Geliebten Salomos im Hohenlied. Doch dann beantwortete er die Frage selbst: Sulamith stellt die Weisheit dar. Aber erinnerst du Dich, daß er zuvor gesagt hatte, es sei ein «verschlungenes» Problem? Er benutzte diesen Ausdruck einmal, als er Dich fragte, was «unveränderlich und unvergänglich» sei. Beide Male meinte er wohl, die Frage sei nur zum Teil beantwortet.
    Der Meister war immer dafür, daß der Initiierte versucht, die Fragen selbst zu entwirren. In diesem Fall, glaube ich, kann ich die ganze Antwort, die er im Sinn hatte, erraten. Die griechische Wurzel des Wortes «Knoten» oder «Knäuel» ist «gna» – wissen –, von dem wir auch «Gnosis» – geheimes Wissen – ableiten. In vielen Sprachen gibt es Worte aus dieser Wurzel, aber alle haben Bedeutungen, die auf Möglichkeiten hinweisen, wie solch geheimes Wissen oder eine solche Erkenntnis zu erlangen ist.
    Indem der Meister die Sulamith mit dem im Osten stehenden Morgenstern gleichsetzte, hat er erneut unsere Aufmerksamkeit auf diese Geheimnisse gelenkt. Im Hohenlied ist Salomos Liebe schwarz und schön. Sie verkörpert etwas Dunkles, die schwarze Jungfrau, die im alten Glauben vorkam, oder den schwarzen Stein, der vom Himmel fällt.
    Die drei erwählten Jünger aus dem inneren Kreis des Meisters waren Simon Petrus sowie Jakobus und Johannes Zebedäus, die, wenn das Reich Gottes kommen wird, neben ihm sitzen wollten. Aber statt dessen betraute er jeden – bezeichnenderweise und symbolhaft, wie ich finde – mit einer besonderen Aufgabe, die sie nach seinem Tod an drei verschiedenen und ganz besonderen Orten hier auf der Erde erfüllen sollten: Jakobus in Brigantium, Johannes in Ephesus und Petrus in Rom. Brigantium ist die Heimat der keltischen Göttin Brighde; Ephesus die der griechischen Artemis oder der römischen Diana. Und Rom ist die Heimat der früheren phrygischen Großen Mutter, dem schwarzen Stein aus Anatolien, der sich heute in einem Heiligtum auf dem Palatin befindet. Die Initialen dieser drei Städte ergeben BER – das Akronym jener Göttin in der Form eines Bären.
    Diese drei Orte auf der Erde stellen symbolisch die drei Gesichter einer alten Göttin dar – einer Göttin, die von der Sulamith im Hohenlied verkörpert wird.
    Folglich zielt die Frage des Meisters – Wer war die dunkle Frau aus dem Hohenlied? – genau ins Herz seiner Botschaft, daß das Hohelied eine Initiationsformel war, die nur jene übernehmen sollten, die sich aufmachten, das große Werk zu leiten. Die Verbindung zwischen dem weißen König aus dem Granatapfelgarten und der dunklen Jungfrau aus dem Weinberg bedeutet die Verbindung von Göttlichem und Fleischlichem, die den eigentlichen Kern der Mysterien offenbart.

    Als ich zu Ende gelesen hatte und aufblickte, saß Sam da – immer noch mit Jason auf dem Schoß – und grinste mich an.
    «Das war einer von den Briefen, die ich schon einmal übersetzt habe, bevor Wolfgang die Kopien meiner Manuskripte geklaut hat», sagte er. «Wenn es so gemeint ist, wie es klingt, würden bestimmt einige Theorien über den Zölibat hinfällig. Aber warum meinst du, daß es etwas mit der Stimme über dem Wasser oder mit dem Tod des großen Gottes Pan zu tun hat?»
    «Es könnte genau das sein, was sämtliche Manuskripte von Pandora miteinander verbindet», antwortete ich. «Ich denke, dieser Brief hier sagt uns, daß eine Initiation – jede Initiation – eine Art Tod erfordert – Abschied von der Welt, dem Ego, dem früheren Ich – so wie die Natur sterben muß, um sich jedes Jahr zu erneuern. Vergiß nicht, die zwei Götter, die sich in Delphi jedes Jahr abwechselten, waren Apollo, der Apfelkönig, und Dionysos, der Gott des Weinbergs – die gleiche Sache wie bei unseren Protagonisten im Hohenlied. Umgekehrt verlangen Geburt und Taufe eines neuen Äons,
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