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Neverwake

Neverwake

Titel: Neverwake
Autoren: Tobias O. Meissner
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gesamten Lebtag lang nichts anderes, als aufeinander zu schießen, sich zu prügeln oder sich mit Hieb- und Stichwaffen in Scheiben zu schneiden, und dennoch bezeichnet jeder von ihnen sich als glühender Pazifist, und keiner von ihnen lügt. »Wenn ich sehe, wie in echt jemand Nasenbluten hat, wird mir schlecht«, gibt der androgyne Meister Berengare bereitwillig zu Protokoll, »aber wenn ich in der Liga jemandem das Gesicht zu Brei schlage und ihm dann die Wirbelsäule aufbreche, dann bringt mich dies ästhetische Vergnügen zum Jauchzen.« Die Virtualisierung der Gewalt hat auch zu einer Virtuosität der Gewalt geführt. Was die Altmeister Kurosawa, Peckinpah und Woo begannen, wird heute von den Edelprogrammierern der Softwareschmieden in immer raumgreifendere Höhen und endoskopischere Tiefen geschraubt. Der Makrokosmos und der Mikrokosmos vereinigen sich in einer lichtschnell rotierenden Gewaltspirale, und das »Ahh« und »Ohh« aller Beteiligten ist längst kein Wehklagen mehr, sondern das reinste Entzücken.
    Jetzt jedoch meldet sich eine neue Fraktion zu Wort, die schon seit einigen Jahren im Verborgenen vor sich hinglost, aber erst langsam anfängt, sich schlagkräftig zu organisieren. Um sich von den prädominanten Virts abzugrenzen, nennen sie sich die Realers, und sie verachten alles Künstliche. Sie sind bereits als faschistoid verunglimpft worden, aber der Wortführer der Realers, der Bretone Guetty Foche, kann darüber nur lachen. »Wir sind weder rassistisch noch expansiv, noch stehen wir auf Gleichschaltung oder Uniformen. Wir sind Rebellen gegen die allgegenwärtige Herrschaft der Simulation, nichts weiter«, schreibt er in seinem tatsächlich auf Papier – immerhin nicht auf Menschenhaut – gedrucktem Manifest Les Survivantes. Aber sind Virts und Realers in Wirklichkeit überhaupt Antag o nisten? Was propagieren die Realers denn eigentlich, was ist es, was Guetty Foche auf seinen interkontinentalen Tourneen präsentiert und schmackhaft zu machen versucht? Ist es die Beschäftigung mit dem wahren Leben, das politische und sozial engagierte Erwachen aus dem trägen Neverwake, in dem wir alle es uns so behaglich eingerichtet haben?
    Nein. Die Realers präsentieren ein neues Spiel. Sie rebellieren gegen die Herrschaft der Simulation, indem sie Rebellion simulieren.
    Sie nennen es The Foreshadowing. Es ist ein Teamspiel, basierend auf einem komplexen quasimythologischen Rege l werk. Keine Spielbegegnung läuft unter exakt identischen Bedingungen ab, aber im großen und ganzen geht es immer darum, daß zwei bis acht Teams sich auf einem in sogenannte Bewegungs- und Schutzzonen unterteilten Spielfeld entweder um einen Ball oder um eine Art Zepter prügeln, wobei so lange zugeschlagen werden darf, bis der Unterlegene sich nicht mehr rührt. In der Ballspielvariante werden durch Werfen des Balles auf bewegliche Ziele Punkte angesammelt, in der Zeptervaria n te müssen das Zepter erobert sowie die gegnerische(n) Man n schaft(en) entweder aufgerieben oder in die Flucht geschlagen werden.
    The Foreshadowing ist ein extrem harter Vollkontaktsport. Die Spieler tragen die ausgeschlagenen Zähne ihrer Gegner als Ohrschmuck oder an Kettchen um den Hals. The Foreshad o wing ist eine atavistische Gegenwelt zur distanzierten Körpe r losigkeit der Virts. Virts müssen physisch nicht unbedingt in Form sein, auch einer, der zu fett ist, um aufrecht stehen zu können, kann es in der Liga zu etwas bringen, wenn er flinke Finger hat. Aber Realers müssen stark sein und schnell – und vor allem hart im Nehmen. Sie tragen zwar martialische Rü s tungen, und auch ihre Waffen sind gepolstert – immerhin soll es ja immer noch ein Spiel sein –, aber gebrochene Knochen und astreine Knockouts sind bei ihren Begegnungen Tagesor d nung.
    Durch The Foreshadowing gewinnt Rollerball Authentizität.
    Doch Rollerball – und seine zahllosen glückloseren Epigonen – war nur ein Einfluß unter mehreren.
    1988 drehte David Webb Peoples in Australien den Film Salute of the Jugger. Bereits Ende des vorigen Jahrhunderts bildeten sich – unter anderem auch in Berlin – Clubs, die die in diesem Film geschilderte Endzeit-Fantasy-Kampf-Team-Sportart Jugger praktizierten – ein direkter Vorläufer von The Foresh a dowing, das demzufolge ehrlicherweise eher The Aftermathing heißen sollte.
    Kleines Detail am Rande: Jugger-Erfinder D. W. Peoples (R egie und Buch!) war wiederum sieben Jahre vorher maßge b lich verantwortlich für das
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