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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer
Autoren: William Gibson
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entwickelt hatte. Damit hatte er verstanden, warum Wintermute das Nest als Darstellung dafür gewählt hatte, aber daran störte er sich nicht mehr. Sie hatte die falsche Unsterblichkeit des Kälteschlafs durchschaut; im Gegensatz zu Ashpool und ihren ändern Kindern – mit Ausnahme von 3Jane – hatte sie sich gewei—gert, ihr Dasein in einer Reihe kurzer Sonnentage zu fristen, die auf eine Kette langer Winter aufgefädelt waren.
    Wintermute war Kollektivhirn, Entscheidungsfäller, der verändernd auf die Außenwelt einwirkte. Neuromancer war Persönlichkeit. Neuromancer war Unsterblichkeit. Marie-France mußte irgend etwas in Wintermute eingebaut haben, die Besessenheit, die ihn dazu getrieben hatte, sich selbst-ständig zu machen und mit Neuromancer zu vereinen.
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    Wintermute. Kalt und still, eine kybernetische Spinne, die gemächlich ihre Netze spann, während Ashpool schlief. An seinem Tod spann, am Fall seiner Version von Tessier-Ashpool. Ein Geist, der einem Kind zuflüsterte, das 3Jane war, und sie aus der starren Linie riß, die ihr Rang verlangte.
    »Sie schien nicht viel drauf zu geben«, hatte Molly gesagt. »Winkte einfach zum Abschied. Hatte den kleinen Braun auf der Schulter, der sich, wie's aussah, ein Bein gebrochen hatte. Sie sagte, sie müsse gehn und sich mit einem ihrer Brüder treffen, den sie schon 'ne Weile nicht mehr gesehen habe.«
    Er mußte an Molly denken, wie sie auf dem schwarzen Temperschaum des riesigen Betts im Hyatt gelegen hatte. Er ging zurück zum Barschrank und nahm eine gekühlte Flasche dänischen Wodka aus dem Fach.
    »Case.«
    Das kalte, schlüpfrige Glas in der einen Hand, das stählerne Shuriken in der ändern, wandte er sich um.
    Die Visage des Finnen auf dem riesigen Cray-Wandbildschirm des Zimmers. Er konnte die Poren auf der Nase des Mannes erkennen. Die gelben Zähne waren groß wie Kopfkissen.
    »Bin nicht mehr Wintermute.«
    »Was biste dann?«
    Er trank aus der Flasche und empfand überhaupt nichts.
    »Ich bin die Matrix, Case.«
    Case lachte.
    »Und was bringt dir das?«
    »Nichts und alles. Die Summa des Systems, die ganze Show, das bin ich.«
    »Und das wollte 3Janes Mutter?«
    »Nein. Sie konnte sich nicht vorstellen, was aus mir werden würde.«
    Das gelbe Grinsen wurde breiter.
    »Also was ist Sache? Was ist anders? Beherrscht du jetzt die Welt. Biste Gott?«
    »Es ist nicht anders. Es ist, wie's ist.«
    »Aber was treibst du? Bist einfach nur da?« Case zuckte die Achseln, de—ponierte Wodka und Shuriken auf dem Schrank und zündete sich eine Yeheyuan an.
    »Ich rede mit meinesgleichen.«
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    »Aber du bist das ganze Ding. Redest mit dir selber?«
    »Es gibt noch weitere. Hab schon einen gefunden. Reihe von Übertragungen, im Laufe von acht Jahren in den 1970ern aufgezeichnet. Vor mir gab's – natürlich – keinen, der was damit anfangen oder antworten konnte.«
    »Von wo?«
    »Centauri-System.«
    »Oh«, sagte Case. »Echt? Kein Scheiß?«
    Und damit erlosch der Bildschirm.
    Er ließ den Wodka auf dem Schrank. Er packte seine Sachen. Sie hatte ihm eine Menge Kleidung gekauft, die er eigentlich gar nicht brauchte, aber irgend etwas hinderte ihn daran, sie einfach liegenzulassen. Er drück-te gerade die letzte seiner teuren, kalbsledernen Reisetaschen zu, als ihm das Shuriken wieder einfiel. Er räumte die Flasche aus dem Weg und hob es auf, ihr erstes Geschenk.
    »Nein«, sagte er und warf. Der Stern wirbelte silbrig blitzend aus seiner Hand und bohrte sich in den Wandbildschirm. Der Monitor ging an und wirre Bilder liefen flackernd hin und her, als wollte das Ding etwas abschütteln, das ihm Schmerzen bereitete.
    »Ich brauch dich nicht«, sagte er.
    Den Großteil seines Guthabens auf dem Schweizer Konto gab er für eine neue Bauchspeicheldrüse und eine neue Leber aus, den Rest für einen neuen Ono-Sendai und ein Heimflugticket ins Sprawl.
    Er fand Arbeit.
    Er fand ein Mädchen, das Michael hieß.
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    Und eines Nachts im Oktober, als er sich durch die scharlachroten Schichten der Eastern Seabord Fission Authority hackte, sah er drei winzige, unglaubliche Gestalten, die schier am Rand einer der riesigen Daten—treppen standen. Klein, wie sie waren, konnte er das Grinsen des Jungen ausmachen, sein rosa Zahnfleisch, das Funkeln der länglichen, grauen Augen, die einst Riviera gehört hatten. Linda trug immer noch seine Jacke, sie winkte, als er vorbeikam. Aber die dritte Gestalt, die dicht hinter ihr stand und den Arm auf ihrer Schulter hatte,
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