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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer
Autoren: William Gibson
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ursprüngliche menschliche Form ist durch diese Tech—
    nologien so nachhaltig umgemodelt worden, daß sie eigentlich nur noch
    in einer Kolonie im Mondorbit vorkommt, die als eine Art Naturreservat
    eingerichtet ist. Die Posthumanen betrachten dies keineswegs mit Entsetzen, sondern rein positiv.
    Die kladogenetische Entwicklung ist die gegenwärtig extremste Aussage des Neuromantischen Konzepts von der menschlichen Evolution mittels Wissenschaft und Technik. Bei Bear wird aus der Menschheit zunächst eine einzige, posthumane physische Form, die dann das physische Universum transzendiert. Sterling hingegen führt das Konzept evolutionärer Vielfalt mittels Technologie ein.
    Die Evolution à la Sterling läuft kladogenetisch oder mittels Tochterspezies ab, und nicht linear; sie breitet sich strahlenförmig aus. Erfolgreiche Spezies entwickeln sich nicht in gerader Linie in eine einzige Tochter-gattung, sondern pflanzen sich strahlenförmig in eine Vielzahl von Folge—spezies fort.
    Das voll ausgebildete Schisma birgt eine komplexe Vielzahl posthumaner Spezies, die alle das Ergebnis natürlicher Auslese, aber auch technischer Entwicklung sind. Da sind »Hummer«, die durch Kyborg-Verfahren so in ihre Raumanzüge eingebaut sind, daß ihnen jegliche Atmosphäre zuwider ist. Da sind die Menschen biologisch an Methanmeere angepaßt. Da hat eine komplette Raumkolonie als Innenausstattung das veränderte Pro—toplasma einer einzigen Frau, Lindsays gelegentlicher Geliebter, die ihre menschliche Persönlichkeit behält.
    Schismatrix ist ein gründlich ausgearbeiteter »hard science fiction«-Roman, in dem die wissenschaftliche und technische Extrapolation und die Beschreibung der Weltraumbewohner, womit jeweils nicht gespart wird, mit einer Sorgfalt und Detailfreude ausgeführt sind, worauf ein Heiniein, 268
    Niven oder auch Benford und dergleichen stolz sein könnten. Aber während die Prosa der direkten, transparenten Linie folgt, die wir vom Genre »hard science« erwarten, verwendet Sterling sie, um seinen Roman mit ebenbürtigem psychologischen Tiefgang und Detail auszustatten. Die Charaktere, insbesondere Lindsay, sind - ungeachtet ihrer bizarren Physiognomie - menschlich-psychologisch glaubhaft dargestellt.
    Und gerade das macht Schismatrix vielleicht noch radikaler und aufwühlender als Blood Music. Während Bears einzige »Tochterspezies«, die Noosphäre, ein mystischer, transzendentaler Endpunkt ist, der in Staple-don, Clarke und vielleicht am unmittelbarsten in Teilhard de Chardin seine Vorläufer hat und vor allem unserem geistigen Menschheitsbegriff auf den Leib rückt, konfrontiert uns Sterlings nichttranszendentale Darstellung
    der relativ normalen und unverkennbar menschlichen Psyche der physisch
    umgemodelten, kladogenetischen Menschheit mit der unvermeidlichen
    Wandlung unseres Körperbegriffs durch Wissenschaft und Technik. Seltsamerweise ist es Sterling, und nicht Bear, der zumindest an diesem Schei-deweg am weitesten in die von Bear in Austin angedeutete Richtung gegangen ist. Denn die Menschen, besser gesagt die Völker in Schismatrix, die zwar psychisch unsere Brüder und Schwestern darstellen, sind physisch keineswegs mehr als Menschen erkennbar.
    Durch Wissenschaft und Technik werden wir den Aliens begegnen, und
    das werden wir selbst sein. Erst ganz zum Schluß bietet Sterling einen gewisser maßen transzendentalen Ausgang an, der sich mit der scharfge—zeichneten Struktur reibt, die er so sorgfältig konstruiert hat, indem er Lindsay zu einem evolutionären Endpunkt bringt, der uns Leser Und vielleicht auch Sterling selbst nicht ganz überzeugt. Denn insgesamt ist der Roman so ausgerichtet, daß die Evolution unsrer Spezies mittels Wissenschaft und Technik kein Ende hat, sondern ein endlos sich verzweigender Prozeß ist.
    Somit schrecken die Neuromantiker selbst - zumindest in diesem Stadi—
    um - vor den letzten Konsequenzen ihrer Erforschung der Grenzen der
    technisch gesteuerten menschlichen Evolution zurück. Nicht einmal die
    Visionäre unsrer Spezies sind derzeit imstande, diese Schwelle zu über—
    schreiten.
    Die Evolution läuft kladogenetisch ab. Ebenso die Science Fiction. Vielleicht wird es immer eine Schwelle geben, deren Überwindung zwangsläu—269
    fig einer Tochterspezies obliegt.
    Copyright © 1986 by Norman Spinrad 270
     
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