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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer
Autoren: William Gibson
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zwischen dem wissenschaftlichen Weltbild und dem romantischen Impuls.
    Es hat lange gedauert, bis wir allmählich verstanden haben, daß diese
    Dichotomie illusorisch ist. Dabei hätten wir das von Anfang an sehen oder vielmehr hören sollen, denn der Ausdruck des romantischen Impulses durch »high tech«-Instrumente ist das Herz des Rock and Roll.
    Rock war schon immer die Musik libidinöser Anarchie und romantischer
    und transzendentaler Impulse; ohne diese »message« ist's halt kein Rock
    and Roll. Freilich war Rock schon immer per Definition eine technische
    Musik, denn ohne elektrische Gitarre und Synthesizer ist's halt auch kein 262
    Rock and Roll.
    Die ideologische Politik der sechziger und frühen siebziger Jahre verschleierte diese offensichtliche Wahrheit, trübte unsern Blick dafür und verbarg die »high tech«-Romantik und den Kyborg-Transzendentalismus.
    Auf der einen Seite langes, natürliches Haar, Ökologie, natürlich erzeugte Nahrung, bukolische Hinwendung zur Natur-Romantik, östlicher Mystizismus und persönliche Verwirklichung. Auf der ändern Seite der knallhar—te, moralisch gerechtfertigte, militaristische, rationale Bereich von Wissenschaft und Technik und ein technokratisches Amerika.
    Aber in der Mitte der siebziger Jahre rebellierten die neuen Punks gegen die anti-artifizielle, anti-technische Ästhetik der Gegenkultur. Blumige Erdfarben waren out, schwarzglänzendes Leder und hochglanzpoliertes High-tech-Chrom waren in. Out waren die rosigen Nickelbrillen, in getönte, verspiegelte Gläser. Out war das lange, natürliche Haar, in die dreiste, stachlige, buntgefärbte, aufgemotzte Frisur.
    Eine neue »high tech«-Romantik.
    Die neuen Punks sind keine schuftenden Technokraten, sondern anar—
    chistische Rocker in der alten, romantischen Tradition. Aber sie sind
    Rocker, die die wirkliche, von Wissenschaft und Technik geprägte Welt,
    die Realität des letzten Viertels des Zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren Zukunftsaussichten bereitwillig hinnehmen.
    So auch die Neuromantiker.
    Leute wie Gibson und insbesondere John Shirley sind insofern Cyberpunks, als ihre Arbeit vom Drum und Dran des gegenwärtigen Rocker-Stils geprägt ist. Andere wie Bruce Sterling, Lewis Shiner und Greg Bear (der recht erstaunt war, sich auf dem Cyberpunk-Forum von Austin wiederzufinden) schreiben Geschichten, die in einem Milieu angesiedelt sind, das keinerlei Punk-Ästhetik aufweist. Gibson und in noch stärkerem Maße Sterling und Bear betreiben die wissenschaftliche Extrapolation ebenso gründlich wie anerkannte »hard SF«-Autoren wie Larry Niven oder Hal Clement und andere.
    Aber irgendwie erweckt keiner der Neuromantiker den Anschein, die
    wissenschaftliche Spekulation als das Ein und Alles seiner Arbeit und eigentliches Kernthema zu betrachten. Und während nur wenige die charak—teristische Schärfe von Gibsons Prosa anstreben, konzentrieren sie sich
    alle unmittelbar auf Charakter, und zwar mit einer Intensität und Feinsin-263
    nigkeit, die sich mit dem Wesen traditioneller »hard science fiction« reibt.
    Dennoch schreiben die Neuromantiker »hard science fiction« gemäß jeder positiven Definition des Begriffs und zugleich Charakterstudien. Denn ihnen allen gemeinsam ist das thematische Vorgehen sowohl der »hard science fiction« als auch der charakterologischen SF und damit, das
    Grundthema jeder wirklich anspruchsvollen SF, Punkt.
    Nämlich wie unser zunehmend intimeres FeedbackVerhältnis zur
    Technosphäre, die wir erschaffen, unsre Definition dessen verändert hat, verändert und verändern wird, was es heißt, Mensch zu sein.
    John Shirleys jüngster Roman Eclipse ist eindeutiger politisch als jeder andere SF-Roman der letzten fünfzehn Jahre. Zu Beginn des nächsten Jahrhunderts angesiedelt, bedient er sich multipler Perspektiven, um die komplexe Geschichte eines komplexen Widerstands gegen eine komplexe Fa—schistenkonspiration zu schildern, die die Vereinigten Staaten und West—europa unter Kontrolle bringen will. In den letzten Jahren lebte Shirley eine ganze Weile in Europa und schrieb unter verschiedenen Namen Polit—Thriller, was sich in Eclipse zeigt.
    Man mag Shirleys Politik nicht ohne Widerspruch hinnehmen, aber kein
    SF-Autor hat sich so realistisch wie Shirley mit internationalem Politterror auseinandergesetzt; schließlich läßt sich zukünftige Politik eben nicht realistischer darstellen. Auch wenn Shirley keine Namen nennt, leiten sich die Strömungen und Verschwörungen in
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