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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer
Autoren: William Gibson
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duckte sich furchtsam, ließ den Stock fallen und rannte davon. Er wußte ihre Pulsfre—quenz, die Länge ihrer Schritte in Maßen, die den höchsten geophysikali—
    schen Genauigkeitsansprüchen genügten.
    »Aber ihre Gedanken kennst du nicht«, sagte der Junge, der jetzt bei ihm
    im Herz des Haifischgebildes war. »Ich kenne ihre Gedanken nicht. Du hast dich geirrt, Case. Wer hier lebt, der lebt. Da gibt's keinen Unterschied.«
    Linda hechtete sich in ihrer Panik blindlings in die Wellen.
    »Halt sie auf!« sagte er. »Sie wird sich was antun.«
    »Ich kann sie nicht aufhalten«, sagte der Junge mit den sanften, schönen, grauen Augen.
    »Du hast Rivieras Augen«, sagte Case.
    Weiße Zähne blitzten auf, und das Zahnfleisch leuchtete breit und rosa.
    »Aber nicht seinen Wahnsinn. Weil sie mir besonders gut stehen.« Er zuck—
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    te die Achseln.
    »Ich brauche keine Maske, um mit dir zu sprechen. Im Gegensatz zu
    meinem Bruder. Ich schaffe meine eigene Persönlichkeit. Persönlichkeit ist mein Medium.«
    Case steuerte sie steil in die Höhe, weg vom Strand und dem ver—
    schreckten Mädchen. »Warum setzt du sie mir ständig vor, du kleiner
    Schwanz? Immer wieder, Scheiße, und mich schiebste hin und her. Du hast
    sie umgebracht, was? In Chiba.«
    »Nein«, sagte der Junge.
    »Wintermute?«
    »Nein. Ich sah ihren Tod voraus. In den Mustern, die du manchmal im
    Reigen der Straße zu erkennen glaubtest. Diese Muster gibt's. Ich bin auf meine beschränkte Art komplex genug, um diesen Reigen deuten zu können. Viel besser, als es. Wintermute kann. Ich sah ihren Tod in ihrem Bedürfnis nach dir, im Magnetkode des Schlosses an der Tür deines Sargs im Cheap Hotel, in Julie Deanes Abrechnung mit einem Hongkonger Herren—schneider. War so klar für mich wie der Schatten eines Tumors für den
    Arzt, der das Röntgenbild eines Patienten studiert. Als sie deinen Hitachi zu ihrem Knaben schleppte, um ihn anzapfen zu lassen – sie hatte keine Ahnung, was drin war, geschweige denn, wie sie's verkaufen sollte, und ihr tiefster Wunsch war, daß du ihr nachgehen und sie bestrafen würdest -, trat ich dazwischen. Meine Methoden sind viel sinniger als die von Wintermute. Ich holte sie hierher. In mich rein.«
    »Warum?«
    »Weil ich hoffte, ich könnte dich auch holen, hier verwahren. Was nicht
    klappte.«
    »Und was nun?« Er schwenkte und steuerte sie in die Wolkenbank zurück. »Wie geht's jetzt weiter?«
    »Ich weiß nicht, Case. Die ganze Matrix wird sich heut' abend diese Frage stellen. Weil du gewonnen hast. Längst gewonnen hast, weißt du das nicht? Du hast gewonnen, als du am Strand von ihr gegangen bist. Sie war
    meine letzte Verteidigung. Ich sterbe bald – in einer Hinsicht. Genau wie Wintermute. So sicher wie Riviera gerade, der gelähmt an einem Mauer—stumpf in der Wohnung von Mylady 3Jane Marie-France liegt und dessen
    nigro-striatales System nicht in der Lage ist, die Dopaminrezeptoren zu produzieren, die ihn vor Hideos Pfeilen retten könnten. Riviera wird nur 246
    als diese Augen überleben, falls ich sie behalten darf.«
    »Da ist noch das Wort, richtig? Der Kode. Wie habe ich also gewonnen?
    Scheiße hab ich gewonnen.«
    »Schalt um!«
    »Wo ist Dixie? Was hast du mit der Flatline angestellt?«
    »McCoy Pauley bekommt seinen Wunsch«, sagte der Junge lächelnd. »
    Seinen Wunsch und mehr. Gegen meinen Willen hat er dich hier reinge—
    hackt und sich durch eine Verteidigung geboxt, die in der Matrix ihresgleichen sucht. Schalt jetzt um!«
    Und Case war allein im schwarzen Kuangstachel, im Gewölk verloren.
    Er schaltete um.
    In Mollys Anspannung; ihr Rücken war hart wie Stein, ihre Hände lagen
    um 3Janes Hals. »Komisch«, sagte sie, »ich weiß genau, wie du aussehn
    wirst. Hab's gesehn, nachdem Ashpool das gleiche mit deiner Klonschwe—
    ster gemacht hat.« Ihre Hände waren sanft, beinahe zärtlich.
    3Janes Augen waren groß vor Entsetzen und Lust; sie schauderte vor
    Furcht und Verlangen. Hinter dem Freifall-Gewirr von 3Janes Haaren sah
    Case das eigene Gesicht, angestrengt und blaß. Dahinter Maelcum. Braune
    Hände auf den Schultern der Lederjacke stabilisierten ihn über dem ver—
    flochtenen Schaltkreismuster des Teppichs.
    »Würdest du?« fragte 3Jane mit kindlicher Stimme.
    »Ich glaube, du würdest es tun.«
    »Den Kode«, sagte Molly. »Sag dem Kopf den Kode!«
    Er steckte aus.
    »Sie will ihn«, schrie er. »Das Luder will ihn!«
    Er öffnete die Augen und sah das kühle Rubinstarren
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