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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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sich wie vor einem Spiegel.
    Wolfgang, der Hüne, streifte sie auf dem Weg in die Bar, sie fuhr zurück, als hätte er ihr einen Stoß versetzt. Wir folgten ihm ins Dunkel. Ich hielt mich dicht hinter Jörg. »Wollt ihr Polonaise tanzen?« schrie eine Frau und drückte mir ihre heißen Hände auf den Rücken. Jemand tätschelte mich am Hintern. Wohin ich auch sah, ich erkannte bestenfalls helle Kleidungsstücke. Der Scheinwerfer über der Tanzfläche, in dessen Lichtkegel sich nackte Arme wanden, war die einzige Orientierung.
    Je weiter wir vordrangen, um so leichter kamen wir voran,um so heller wurde es. Wir steuerten auf eine Gruppe zu, deren äußerer Ring aus Männern bestand. Sie traten zurück und gaben den Blick frei auf eine Schar Frauen, die sich zu zweit oder zu dritt auf den wenigen Sesseln drängten.
    Vor dem Mann in ihrer Mitte blieben wir stehen. Er schob sich ächzend nach vorn auf die Kante seines Sessels, erhob sich aber dann trotz seines mächtigen Bauches überraschend mühelos. Er fingerte an den Knöpfen seines Jacketts, während über seine Stirn Lichtpunkte von einer Diskokugel wanderten. Ich empfing als letzter seinen Handschlag und seine Visitenkarte: Jan Steen. Sein Blick glitt an mir herab, er lächelte und ließ sich wieder in den Sessel fallen.
    »Jetzt werden Geschäfte gemacht«, rief einer der Männer im Kommandoton und klatschte in die Hände. Widerwillig erhob sich eine Frau nach der anderen, und wir setzten uns auf die noch warmen Sesselpolster.
    Jörg und Georg hatten Steen in die Mitte genommen. Weil sie gegen den Lärm und die Musik anschreien mußten, sah es aus, als machten sie ihm Vorwürfe. Steen hingegen hatte offenbar schnell das Interesse an meinen Chefs verloren, sein Blick schweifte umher. Nur wenn er der Kellnerin, einer blondierten Bulgarin, die letztes Jahr, wäre es mit rechten Dingen zugegangen, den Miss-Altenburg-Wettbewerb hätte gewinnen müssen, sein Glas entgegenhielt, lächelte er und prostete den Frauen zu. Die taten, als würden sie ihn nicht sehen. Sie schmollten. Eine war derart beleidigt, daß sie abwinkte und uns ihren nackten fleischigen Rücken darbot.
    Wolfgang und ich tranken jeden Weinbrand, den Steen orderte, um Jörgs Abstinenz und Georgs Zurückhaltung wettzumachen. Wolfgang stellte die leeren Gläser zwischen den Schuhen ab, wo auch der Aschenbecher stand, und knetete seine Hände. Er arbeitet für »Lufttechnische Anlagen«, die sich wie das Landestheaterabkürzen, LTA . Ich erzählte ihm die Geschichte, wie man hier im »Wenzel« geglaubt hatte, in mir einen Betrüger gefaßt zu haben, weil die »Lufttechnischen Anlagen« sich weigerten, meine Rechnung zu bezahlen. Wolfgang lächelte vor sich hin. Mich hatten die wenigen Sätze heiser gemacht. Wir taten nichts anderes, als in alle Richtungen zu prosten und zu trinken. Bald schon durchflutete mich eine Welle des Wohlwollens.
    Neben Wolfgang war eine gleichfalls sehr große Frau stehengeblieben. Ihrer Handtasche entnahm sie eine rahmenlose Brille. Ich wollte ihr meinen Platz anbieten, doch Wolfgang schlug mir auf den Schenkel und erhob sich. Jan Steen verabschiedete die Riesin mit einem Handkuß, ohne sie zuvor zum Bleiben aufgefordert zu haben. Jörg und Georg schlossen sich den beiden an. Und plötzlich war ich allein mit Jan Steen, der sich in einem unerforschlichen Rhythmus mit der Rechten aufs Knie schlug. Wenn ich ihm zuprostete, erwiderte er meinen Gruß mit großer Geste. Nach und nach kehrten die Frauen zurück und scharten sich wieder um ihn. Ich rief ihm zu, wie wunderbar es sei, betrunkene Leute tanzen zu sehen und selber zu trinken. Und dann lachte ich plötzlich, weil ich den Gedanken so komisch fand, daß er und ich nichts voneinander wollten, als beieinanderzusitzen und die Frauen zu beobachten, wie sie ihre Gläser leerten und auf die Tanzfläche staksten, wo sie sich immer wilder, immer schlangenhafter gebärdeten. Wenn es jetzt bloß nicht aufhört, dachte ich, wenn es nur weitergeht.
    Jan Steens Doppelkinn führte unter dem schmalen Gesicht ein merkwürdiges Eigenleben. Je häufiger ich es betrachtete, um so klarer erkannte ich darin eine zweite, vollkommen selbständige Physiognomie. Ansonsten war Steens Körper aus einem Guß und wohl von jeher dazu bestimmt, sein Übergewicht zu tragen. Wir prosteten und lächelten uns weiter zu und genossen nebeneinander unser Dasein.
    Als ich dann ihr Gesicht entdeckte, war ich sofort voller Begehren und Melancholie. Der Rücken ihres so
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