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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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allerdings regelmäßig als erster den Arm hoch. Jörg, der Versammlungsleiter,grüßte unentwegt Bekannte, die er im Saal entdeckte, und lächelte. Ganz links erkannte ich jenen Schreihals wieder, der die Demonstration am 4. November gerettet hatte. Seine Augen glänzten.
    Vielleicht müssen solche Sitzungen ja sein. Mir aber wurde vor Langeweile richtig schlecht. 14
    Nach einer Stunde etwa erhob sich zwei Tische entfernt eine Frau. Wegen ihrer großen Brille und der perückenartigen Haarpracht war ihr Alter schwer zu schätzen. Was sie von sich gab, blieb unverständlich. Aufgefordert, lauter zu sprechen, rief sie: »Ich bin bereit, die Führung des Neuen Forums zu übernehmen.« Gebeten, ihren Namen zu nennen, schrie sie enthusiastisch: »Ich heiße«, brach jäh ab und wiederholte ihre Bereitschaft, die Führung zu übernehmen. Von Applaus und Gejohle ermuntert, erhob sie die linke Faust zum Gruß.
    Aus Rücksicht auf Georg und Jörg, vor allem aber auf Ralf klatschte ich nicht mit. Schon mein Lächeln schien ihn zu kränken.
    Nach ihr riß der Schreihals im Präsidium das Mikro an sich. Er betonte jedes zweite oder dritte Wort und federte dazu in den Knien. Er sprach lachend, als erbrächte jedes seiner Worte den praktischen Beweis, wie unleugbar recht er habe. Mit dem Bleistift zeigte er dann auf diejenigen, denen er das Wort erteilte. Man beschimpfte ihn als Suffkopp 15 und Stümper. »Für alles wird es eine Lösung geben«, schrie er, »wenn die grundlegenden Machtfragen beantwortet und demokratische Strukturen geschaffen sind!«
    Schon verließen ganze Gruppen den Saal. Plötzlich sprachRalf. Eine Hand am Gürtel, als müsse er die Hose am Rutschen hindern, hielt er mit der anderen Mikro und Manuskript. Ralf gestikulierte, war deshalb kaum zu verstehen und begriff nicht, was all die Mikro!-Mikro!-Rufe sollten. Punkt für Punkt trug er schließlich seine Forderungen vor, brachte sich selbst aus dem Rhythmus, weil er sich nach Zwischenrufern umdrehte, während seine Frau »Mach weiter!« zischte.
    »Keine Übernahme der Westparteien, Partnerschaft mit den anderen demokratischen Kräften im Osten, Stopp dem Flächenabriß der Altstadt, Ermittlungen wegen verkaufter Ratsbibliothek, Bestrafung des Schalck-Golodkowski 16 , freie Wahlen, Erhalt der Braunkohle, Erhalt der Wismut 17 für friedliche Zwecke, Entlassung von Scharfmachern aus dem Schuldienst, Austritt aus dem Warschauer Pakt, Zivildienst …«
    »Mach weiter! Mach weiter!« flüsterte seine Frau.
    Nach über drei Stunden wurde die Versammlung für beendet erklärt. Einige stimmten das Deutschlandlied an, es ging aber im Lärm unter. Die meisten Tagesordnungspunkte hatten entfallen müssen, so auch die Vorstellung unserer Zeitung.
    Ralf schwieg. Ich versuchte zu lächeln. Seine Frau senkte den Blick, als schämte sie sich – für sich selbst, für mich, für Ralf, für die ganze Versammlung. Im Hinausgehen fragte mich Ralf nach meiner Meinung. »Aber ehrlich, Enrico, ganz ehrlich.«
    An der Garderobe lief ich dem Propheten in die Arme. »Nein! Nein! Furchtbar!« rief er mir zu und trat schon im nächsten Moment mit seinem »Nein! Nein! Furchtbar!« einem anderen in den Weg. Ich hörte ihn, bis ich das Haus verlassen hatte.
    Georg lud mich ein, sie in den »Wenzel« 18 zu begleiten, wir würden dort erwartet.
    An der Rezeption lehnte ein Hüne, der, als er uns sah, die Arme ausbreitete. Sein graues Jackett hatte Schweißflecken unter den Achselhöhlen. Er drückte mich an seine Brust und raunte mir zur Begrüßung meinen Vornamen ins Ohr. Sogar bei uns zu Hause sei er bereits gewesen. Dann belehrte er uns, Jan Staan, den wir gleich kennenlernen sollten, mit seinem Namen anzureden, also nicht nur »Guten Abend« zu sagen, sondern »Guten Abend, Herr Staan« (ich hätte schwören können, daß er Staan sagte), und auch von Wendungen wie »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen« oder »Sehr angenehm« Gebrauch zu machen. Eine Kellnerin schloß gerade das Restaurant ab, und da Wolfgang, wie der Hüne hieß, schwieg, hörten wir für ein paar Augenblicke nur ihre Schritte, das Gezirpe der Lampen und eine ferne Musik. Plötzlich Schreie, Lachen, Rufe, Lärm, ohrenbetäubend! Eine Frau stolperte gegen meine Schulter, blond, füllig, eine Warze am Kinn. Sie betupfte ihr nasses Dekolleté, die weiße Bluse klebte an Bauch und Brüsten, an den Augen zerlief die Schminke. Die Gesichter im Türrahmen verschwanden. Die Blondine bog die Schultern zurück und spreizte
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