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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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der Kasten leer, als ich nachsah. Vorhin, nach dem Frühstück, erkannte ich plötzlich Deine Schrift auf einem Kuvert.
    Jetzt, da der Termin feststeht und Dein Flug gebucht ist … Seit ein paar Tagen fühle ich mich so stark wie schon lange nicht mehr. Selbst dem fuchsig lauernden Jörg war ich gewachsen. Bald jedoch, wenn Du so weit weg sein wirst … Oje, ich klinge wie Mamus. Weiß sie überhaupt davon?
    Ich habe keine Vorstellung von Beirut, aber ich verstehe nicht, warum Nicola 13 seine Mutter nicht lieber nach Berlin bringen will? Und was für Geschäfte wollen sie denn in dieser Trümmerwüste machen?
    Ich habe Angst um Dich, auch ein egoistisches Gefühl. Ich werde Dir nicht helfen können. Zweitausend Mark sind auf meinem Konto. Brauchst Du das? Wieviel ist das? Dreihundert DM ?
    Zeit könnte ich Dir sehr viel mehr geben. Es ist wie verhext, um vier, spätestens um fünf bin ich wach. Dabei gehe ich selten vor zwölf ins Bett. Doch von Müdigkeit keine Spur, nicht mal nachmittags. Wenn mir das Sinnieren zu langweilig wird, blättere ich im Duden. Es ist merkwürdig, wie viele Verben und Adjektive man kennt, ohne sie je zu verwenden.
    Mitte der Woche rief ich Johann an, um ihm zu sagen, daß ich am Theater gekündigt habe und bei einer neugegründeten Zeitunganheuere. Er war äußerst reserviert und kurz angebunden. Jetzt kam ein Brief, der klingt, als hätte Michaela ihn diktiert. Früher hätte ich doch nie Zeitung gelesen, warum ich mich vor den neuen künstlerischen Herausforderungen (er hat tatsächlich dieses Wort verwendet!) drücken wolle. So ging das über vier Seiten. Wie fremd er mir geworden ist!
    Was Du über diesen Adligen schreibst, klingt ja ganz verheißungsvoll. Wenn er tatsächlich nach Altenburg kommen will, kannst Du ihm meine Adresse geben, in der Redaktion werden wir bald ein Telephon haben.
    Verotschka, wenn ich Dich schon nicht sehen darf, dann schreib mir wenigstens, was Du machst, die letzten Handgriffe, irgendwas! Außer Dir habe ich niemanden, auf den ich zählen kann.
    Dein Heinrich

 
     
    Donnerstag, 18. 1. 90
     
    Lieber Jo!
    Ich habe Deine Briefe bekommen und gelesen, mir fehlt es aber an Lust und an Kraft, mit Dir zu streiten. Ich würde mich sowieso nur wiederholen. Warte noch ein paar Monate, dann werden wir gar nicht mehr darüber reden müssen.
    Ich mache kleine Spaziergänge, lese Zeitungen und koche mittags für uns. Plötzlich habe ich so viel Zeit, daß ich gar nicht weiß, was ich damit machen soll.
    Gestern war ich sogar bei einer Versammlung des Neuen Forums, nicht ganz freiwillig, wie ich gestehen muß. Rudolph Franck, der wegen seines grauen Zuckerwattebartes der »Prophet«genannt wird, hatte mich gebeten zu kommen. Seiner Initiative und Fürsprache verdanke ich die Arbeit bei der Zeitung. Was er sich von meiner Anwesenheit versprach, ist mir schleierhaft. Ich werde ihn wohl enttäuscht haben.
    Jörg meinte, es gebe ein Gerücht, Gerücht sei schon zuviel, man wispere nur, daß, wenn jemand (so wie ich) im Herbst den Mund nicht voll genug gekriegt hat, dann aber von heut auf morgen abtaucht, die Sache nicht koscher sein könne. Ich fürchte, es ist Jörg selbst, der solches Zeug streut. Es würde zu ihm passen.
    Ein paar hundert Leute waren im Saal. Ich wollte mich schon setzen, als ich hinter mir meinen Namen hörte. Ich kannte diesen Mann nicht, braunäugig, mittelgroß, dunkles schütteres Haar. Er sei so froh, mich hier wiederzusehen. Seine Frau versicherte mir, wieviel ihr Ralf von meiner Rede damals in der Kirche erzählt habe. Mit ihr und Ralf geriet ich an einen der vorderen Tische. Georg und Jörg saßen bereits im Präsidium. Und dann ging es los.
    Anfangs wurde ständig abgestimmt, um alles mögliche zu bestätigen. Eine derartige Prozedur habe ich mein Lebtag nicht über mich ergehen lassen müssen. Ich fühlte mich meiner Freiheit beraubt, plötzlich war ich ein Gefangener.
    Ralf hingegen schien freudig erregt. Er krempelte seinen Einkaufsbeutel wie einen Ärmel auf, zum Vorschein kamen eine Schreibunterlage und ein A4-Block. Seine Hoffnung, sein Stolz, ja seine ganze Überzeugung lagen in der Sorgfalt, mit der er das Blaupapier zwischen die Seiten legte und, den Kopf dicht über dem Blatt, zu schreiben begann. Nur wenn Jörgs Rede vom Beifall unterbrochen wurde, hielt er inne und klatschte, den Kuli in der Rechten, lautlos mit.
    Georg saß den ganzen Abend fast reglos am Präsidiumstisch und starrte vor sich hin. Beim Abstimmen riß er
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