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Nervenflattern

Nervenflattern

Titel: Nervenflattern
Autoren: M Gibert
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Undeutlich erkannte er, dass der Zug, in den sie gestiegen war, an der Spitze der wartenden Straßenbahnen stand und versuchte, sein Tempo zu erhöhen, aber es gelang ihm nicht. Der Gedanke, dass die Straßenbahn vor seinen Augen davonfahren könnte, trieb ihm die Tränen in die Augen. Dann war er an der hinteren Tür angekommen, drückte auf den grün leuchtenden Taster und die beiden Flügel schwangen auf. Getrieben von der Angst, die Bahn könnte doch noch ohne ihn abfahren, drängte Lenz sich in den voll besetzten Wagen. Direkt hinter ihm schloss sich die Tür, und er hörte das obligatorische Klingeln vor der Abfahrt. Im Schritttempo bahnte sich der Zug seinen Weg durch die Menschenmassen, die an diesem frühen Abend in der Innenstadt unterwegs waren. Lenz krampfte seine Hände an einer Stange über seinem Kopf fest und versuchte gleichzeitig, seinen Brechreiz zu unterdrücken und das Gesicht von Simone Tauner in der Menge auszumachen. Dazu musste er sich auf die Zehenspitzen stellen und sich gleichzeitig mit den Armen an der Haltestange hochziehen, um über die Köpfe der anderen Fahrgäste hinwegsehen zu können. Seine Gedanken waren nun wieder etwas klarer, allerdings befürchtete er, die Wirkung des Giftes könnte ihm diese Klarheit vortäuschen. Erschrocken fragte er sich, ob sie vielleicht unbemerkt am Königsplatz ausgestiegen war.
    Er ließ die Stange los und versuchte, sich in den vorderen Teil des Wagens zu drängeln, was wegen der dicht stehenden Menschen nahezu unmöglich war. Zentimeter um Zentimeter kämpfte und drückte er sich weiter, bis zwischen den Leibern hindurch für einen kurzen Moment ihr rotes Kopftuch sichtbar wurde.
    Die Bahn hatte fast den Friedrichsplatz erreicht und wurde langsamer. Wie in Trance hörte Lenz die Ansage der nächsten Haltestelle. Im Strom der aussteigenden Fahrgäste wurde er ein Stück näher an sie herangespült und schätzte die Entfernung zu ihr jetzt auf etwa acht Meter. Sie stand in der Mitte des Ganges, sah nach vorne und hielt mit der rechten Hand auf Augenhöhe eine Haltestange umklammert. Äußerlich wirkte sie völlig ruhig, aber Lenz war davon überzeugt, dass auch ihr Puls raste.
    Als die Bahn wieder anfuhr, kam sie leicht aus dem Gleichgewicht, machte einen Schritt nach hinten und drehte sich kurz um. Dabei traf sich ihr Blick mit dem des Kommissars. Nach einem kurzen Moment des Erschreckens grinste sie den Polizisten an und strich sich mit der freien linken Hand leicht über die Brust. Lenz schüttelte den Kopf.
    Sie griff in die rechte Innenseite ihrer Lederjacke und zog mit einem Ruck eines der dort platzierten Glasröhrchen heraus. Wieder kam sie leicht aus dem Gleichgewicht, als der Zug kurz die Fahrt verlangsamte. Auch Lenz schwankte. Zwischen dem Kommissar und Simone Tauner standen etwa ein Dutzend Menschen. Keiner von ihnen und auch sonst niemand in der Bahn schien sich um den Polizisten oder die Frau zu kümmern. Lenz hangelte mit der Linken nach oben und griff sich eine der herumbaumelnden Halteschlaufen. Mit der anderen Hand holte er seine Pistole aus dem Holster, verbarg sie aber unter der Jacke. Nun schüttelte Simone Tauner den Kopf und hob das Glas in ihrer Hand ein Stück höher.
    »Nächster Halt: Rathaus«, tönte es gedämpft aus dem Lautsprecher über seinem Kopf.
    Als der Zug noch etwa 70 Meter von der Haltestelle entfernt war, stellte Lenz sich breitbeinig hin, nahm die Waffe unter der Jacke hervor, entsicherte sie, hob den Arm und zielte auf ihren Kopf. Eine Frau, die zwischen ihm und Simone Tauner stand und hektisch auf dem Haltewunschknopf herumdrückte, sah die Waffe, stieß einen gellenden Schrei aus und sank auf die Knie. Dadurch wurden auch die anderen Fahrgäste auf die Situation aufmerksam. Blitzartig warfen sich einige auf den Boden, andere ließen sich auf die Sitze fallen, gleichgültig, ob sie frei oder besetzt waren. Viele schrien, aber die meisten sahen weg oder schlangen die Arme um den Kopf, als ob sie sich dadurch vor einer Kugel schützen könnten. Nun stand zwischen dem Polizisten und Simone Tauner nur noch ein etwa 15 Jahre alter Junge mit Stöpseln in den Ohren und einem MP3-Gerät in der Hand. Er hatte die Augen geschlossen und bekam offenbar nichts von dem mit, was um ihn herum passierte. Jetzt verlangsamte die Bahn die Fahrt. Simone Tauner stand unverändert mit dem Glas in der rechten Hand da, aber Lenz wusste, dass sie nur zwei Schritte zu machen brauchte, um den Zug zu verlassen. Er sah über die obere
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