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Nazigold

Nazigold

Titel: Nazigold
Autoren: Paul Kohl
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der nächtliche Gast anscheinend kein Ehrenmann war, hatte das Splendid
den Schaden. So etwas kam eben vor – selbst wenn die Gäste aus den
vornehmsten Schichten des Kontinents stammten, wie Herr Ganz bekümmert schloss.
Anna behielt ihre Meinung dazu lieber für sich. Es traf Herrn Ganz immer hart,
wenn Landsleute nicht seinen eigenen hohen Ansprüchen entsprachen. Sie
überliess ihn seinen melancholischen Gedankengängen; sie musste den Umzug der
Frau Baronin in die Wege leiten. Die kleine Zofe war ganz offensichtlich dieser
Aufgabe nicht gewachsen.
    Gegen Abend erging die Weisung, die Kleine Suite für den Rest der Saison
zu schliessen. Die zur Instandstellung notwendigen Arbeiten waren zu laut und
umtriebig für den Hotelbetrieb, und so entschied der Patron, damit bis zur
Winterschliessung zu warten.
    Das Ausräumen der Suite sollte möglichst ohne Zeugen vonstattengehen.
Kurz bevor der Gong zum Dinner erklang, betrat Anna die Räume, um alles
vorzubereiten. Jetzt, wo sie sich nicht um Freifrauen in peinlichen
Situationen, überforderte Zofen und neugierige Stubenmädchen kümmern musste,
blickte sie nochmals aufmerksam um sich.
    Durch die Fenster fiel die Abendsonne und beleuchtete das
Zerstörungswerk. Von der Innenausstattung der Suite waren wohl einzig und
allein die Nachtvorhänge heil geblieben, weil die Frau Baronin immer darauf
bestand, dass diese «unhygienischen Dinger» schon vor ihrer Ankunft entfernt
wurden.
    Anna hatte sich bisher weder die Mühe gemacht, darauf hinzuweisen, dass
die Vorhänge regelmässig gereinigt wurden, noch je versucht, die erstaunliche
Logik zu verstehen, der zufolge Nachtvorhänge unhygienisch waren, Tagvorhänge
aber nicht. Stattdessen hatte sie in ihrem Zettelkasten die Karte der Baronin
mit einem entsprechenden Vermerk versehen. Die schweren Samtvorhänge wurden
einfach abgenommen, wenn Frau Baronin sich ankündigte.
    Anna mochte die kleinen und grossen Rätsel, die ihr das Verhalten der
Gäste oft aufgab, auch wenn sie das Traumbild von Ordnung und Harmonie, das
jedes Hotel so gerne erschuf, für kurze Zeit empfindlich störten. Aber dieser
Vorfall überstieg alles, was sie bisher erlebt hatte. Etwas stimmte ganz und
gar nicht. Sie zückte ihr Notizbuch und begann zu schreiben.
    «Machen Sie eine Schadensaufnahme?» Herr Ganz war hinter ihr leise ins
Zimmer getreten. «Du liebe Güte!»
    Er hatte bisher noch keine Zeit gehabt, sich in der Suite umzusehen. Der
Anblick schien ihn zu beeindrucken. Schweigend wanderte er durch die Räume.
    «Der Patron könnte schon recht haben mit seiner Theorie», meinte er, als
er zu Anna zurückkam.
    «Was denkt er denn, das hier geschehen ist?»
    «Nun, im Grand Palace sind ein paar Burschenschaftler abgestiegen. Sie
kennen diese Herrschaften ja. Der Direktor glaubt, dass sich einer der jungen
Herren mit der Baronin einen groben Scherz erlaubt hat. Und dann hat er mit
seiner Waffe hier allerhand Unfug getrieben. Vielleicht wurde das Ganze sogar
von Herrn Lenz eingefädelt.»
    Dass Herr Bircher den Ursprung des Ärgers im Grand Palace vermutete, war
nicht weiter erstaunlich. Es war das einzige Haus am Platz, das dem Splendid
annähernd das Wasser reichen konnte. Entsprechend gross waren die Animositäten
zwischen den Patrons; dass sie Cousins ersten Grades waren, machte die Sache
nicht besser, ganz im Gegenteil.
    Allerdings konnte Anna sich nicht vorstellen, dass Herr Lenz seine Gäste
zu solchem Unfug anstiften würde. Aber wie sie selbst aus leidvoller Erfahrung
wusste, bedurften gut betuchte Herren Studenten keinerlei Anreize von aussen
für ihre «Spässe».
    «Hat man die Baronin denn mit einem der jungen Herren gesehen?»
    «Nein – zumindest nicht dass ich wüsste. Wenn sie einen Kurschatten
hatte, dann war sie sehr vorsichtig. Doch es muss jemanden gegeben haben, sonst
hätte sie kein Dinner für zwei bestellt.» Herr Ganz schüttelte ratlos den Kopf
und meinte, er müsse wieder an die Réception zurück.
    Inzwischen hatte sich der Grossteil der Gäste im Speisesaal und im
Restaurant à la carte niedergelassen. Anna hiess ein paar Hausknechte, die
zerstörten Sofas und Fauteuils mit Tüchern abzudecken und in die Remise gleich
neben dem Seiteneingang des Splendid zu schaffen. Die Möbel mussten zum
Sattler, aber das konnte warten. Die aufgeschlitzte Auslegeware wurde sorgsam
zugedeckt in Wäschekörben hinausgetragen, und ein Zimmermädchen entfernte
Nippes und allerlei Kleinigkeiten.
    Anna schritt nochmals durch die Räume,
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