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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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geht?«, fragte sie nachdenklich.
    »Schlüssel verloren?«, fragte das Mädchen und wischte das Messer am leicht eingerollten Saum ihres T-Shirts ab. »Bis gestern stand eine Leiter am Haus daneben, da haben sie gemalert. Von dort aus hätte man rüberklettern können, erst aufs Dach von deinem Haus und dann zu dem Fenster an der Seite. Ist doch dein Fenster, oder?«
    Mein Haus, dachte Svenja, mein Fenster. Und sie lächelte wieder. Ihr Haus war so grau wie das T-Shirt des Mädchens. Es war ungestrichen und baufällig. Genau die richtige Sorte Haus.
    Sie stellte sich vor, wie das Kind die Leiter hochkrabbelte, katzenartig. Wie es oben aufs Dach kletterte und dann über das Dach und wie es in das Flurfenster stieg …
    »Warum?«, murmelte sie. »Warum hat es das getan?«
    »Was?«, fragte das Mädchen. »Wer hat was getan?«
    »Der … Kanarienvogel«, sagte Svenja. »Er ist … mir zugeflogen …«
    Das Mädchen musterte Svenja von unten herauf, prüfend. Ihre Augen waren seltsam türkis und umrahmt von langen dunklen Wimpern.
    »Du bist ganz schön verrückt«, sagte sie schließlich. Dann nahm sie das Brett mit dem Gemüse und steckte das Küchenmesser in die hintere Tasche ihrer Jeans. Die Klinge ragte oben aus der Tasche, und das Licht malte für Momente mehrere Fragen auf die Spitze.
    Wenn ich verrückt bin, wie verrückt ist dieses Mädchen? Warum schneidet sie auf einer Bank neben der Jakobuskirche Gemüse? Warum bewahrt sie meine Post auf?
    »Katleen«, sagte das Mädchen und streckte die Hand aus. Ihr Arm war dünn und sehnig, ihre Hand packte Svenjas mit erstaunlicher Kraft. »Zweites Semester Kunstgeschichte. Komm doch zum Abendessen. Madergasse, drittes Haus links, erster Stock.« Sie nickte zu einer winzigen Gasse hinüber, zur Linken des Platzes. Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser berührten sich an manchen Stellen. »Später«, fügte sie hinzu. »Wann du willst.«
    Damit ging sie über den Platz davon und ließ sich von den Schatten der alten Gasse schlucken.
     
    Svenja stand einen Moment lang im beginnenden Abendblau und drehte den Umschlag zwischen den Fingern. Sie würde ihn später öffnen, sie würde ihn aufbewahren wie einen Rettungsanker.
    Die Dunkelheit im alten Treppenhaus war eine ganz andere Dunkelheit als die Dunkelheit der Madergasse und die Dunkelheit von Katleens Wimpern. Es war auch eine andere Dunkelheit als beispielsweise die Dunkelheit in dem Spind, in den sie ihren Präp-Kittel gehängt hatte.
    Sie fragte sich, ob es möglich wäre, ein Album mit verschiedenen Sorten von Dunkelheit anzulegen, oder ob es zu dick würde, um in ihren Kopf zu passen. Und ob Katleen diese Überlegung verstanden hätte. Die Karins und Katharinas und Kathrins aus dem Präp-Kurs auf jeden Fall nicht.
    In der Wohnung war es ganz still.
    Draußen malte die Uhr der Jakobuskirche sieben große bunte Glockentöne in die Stille. Als die Farben der Töne verlaufen waren, wurde es noch stiller.
    »Hallo«, sagte Svenja laut. Niemand antwortete. Sie ging ins Schlafzimmer. Niemand lag auf dem Bett.
    Auch im Bad war kein Kind. Sie benutzte das Klo – ein Klo mit einer olivgrünen Brille und beigefarbenem Plüschbezug – und fragte sich, ob jemand sie beobachtete. Gegenüber klebte ein Stück Spiegelfolie an der Wand. Man sah sich selbst auf dem Klo, sich selbst übersät mit den winzigen Bläschen der Folie.
    Der Küchenschrank war kinderfrei.
    Auf dem Tisch stand ein benutzter Teller. Ein Löffel.
    »Es war nie da«, sagte Svenja laut. »Das Kind war nie da. Ich habe es mir eingebildet. Außer es hat den Teller abgewaschen und weggestellt …«
    Sie drehte sich mitten in der Küche im Kreis, suchend – und dann fand sie etwas: Sie fand die Pfanne auf dem Herd. Darin befand sich die Hälfte eines Rühreis, sorgfältig in der Mitte geteilt. Svenja ging zurück ins Schlafzimmer, kopfschüttelnd. Und da sah sie, dass die Dunkelheit unter dem Bett etwas enthielt. Das Kind schlief jetzt unter dem Bett, in ein Handtuch gewickelt, das es im Bad gefunden haben musste. Es war zwischendurch wach gewesen, hatte Rühreier gemacht und Svenja die Hälfte übrig gelassen, und nun schlief es wieder. Wann hatte es entschieden, dass unter dem Bett ein besserer Platz war?
    Svenja kniete sich auf den Fußboden.
    »Das ist die zweite Einladung zum Abendessen, die ich heute kriege«, flüsterte sie. »Ich wusste nicht, dass du Rührei machen kannst … Ich weiß nicht mal deinen Namen. Aber es sieht ganz so aus,
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