Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Badezimmertür, und da stand das Kind.
    Es bemerkte sie nicht, es war vertieft in sein eigenes Spiegelbild. Es stand vor der olivgrünen, plüschbezogenen Toilette und starrte die Spiegelfolie mit den Bläschen an. Mit einer Hand fuhr es sich durch die langen braunen Haare, als wollte es sie kämmen, hielt sie dann aus dem Gesicht und trat einen Schritt näher an den Folienspiegel. Svenjas erster Gedanke war: Es ist also ein Mädchen. Mädchen stellen sich vor Spiegel.
    Das Kind war nackt, das T-Shirt und die sackartige Cordhose lagen auf den Rosenfliesen. Und als Svenja an dem Kind hinabsah, war es eindeutig ein Junge.
    Sie fragte sich, wann er sich zum letzten Mal gewaschen hatte. Vielleicht hatte er genau das vorgehabt und sich deshalb ausgezogen. Auf seinem rechten Arm prangte eine neue Schramme. Jetzt stand er so nah am Spiegel, dass seine spitze Nase die Nase des Spiegelbildes berührte.
    »Guten Morgen«, sagte Svenja.
    Der Junge zuckte zusammen und riss seine Kleider an sich.
    »Schon gut«, sagte Svenja und schloss die Badezimmertür. »Aber komm demnächst da raus, ja? Ich muss nämlich aufs Klo.«
    Sie schmierte Marmeladenbrote und kochte Tee. Als der Junge aus dem Bad kam, war er angezogen, aber nicht wesentlich sauberer.
    Svenja duschte und fand ihn hinterher in der Küche unter dem Tisch, wo er wieder etwas anstarrte. Diesmal war es nicht sein Spiegelbild, sondern ein Bild in einem Buch. Von den beiden Marmeladenbroten war eines verschwunden. Das Buch, das der Junge vom Regal geholt hatte – sie stellte es mit Erleichterung fest –, waren
Andersens Märchen
, nicht das
Kamasutra
. Die Seite, die er aufgeschlagen hatte, zeigte die kleine Meerjungfrau. Svenja setzte sich mit ihrer Teetasse ebenfalls auf den Boden, und der Junge sah auf.
    »Das ist die kleine Meerjungfrau«, sagte Svenja. Der Junge schwieg.
    »Ich studiere Medizin«, sagte Svenja. »Verstehst du mich? Oder ist dies die völlig falsche Sprache? Egal. Ich studiere Medizin, und ich komme aus einer anderen Stadt. Das ist meine erste eigene Wohnung. Die Wohnung, in der ich bisher gewohnt habe, gibt es nicht mehr. Meine Eltern haben sie aufgelöst. Das ist ziemlich bescheuert, sie haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich ausziehe, damit sie sich trennen können. Erwachsene sind dumm, merk dir das.«
    Der Junge starrte sie weiter an.
    »Vielleicht ist es ja ganz gut so, wie du es machst«, fuhr Svenja fort. »Mit gar keinem zu sprechen. Sobald man anfängt zu sprechen, wird man missverstanden, und dann gibt es Streit und man trennt sich … Obwohl, eigentlich rede ich ganz gerne. Ich will in dieser Stadt noch mit einer Menge Leute reden.«
    Der Junge blätterte die Seite um und sah einen kurzen Augenblick den geretteten Prinzen an, der schön und schlafend am Strand lag. Dann blätterte er noch einmal um, mit einer kleinen ungeduldigen Bewegung, für Prinzen schien er nicht viel übrigzuhaben. Die Meerhexe auf der nächsten Seite hatte so dunkle Augen wie er.
    »Ich habe gestern Abend eine … irgendwie seltsame Verabredung verpasst«, sagte Svenja. »Hör mal. Ich mache dir einen Vorschlag. Du bleibst hier, mit der Meerhexe und dem Buch. Iss von mir aus das zweite Marmeladenbrot. Ich bin in fünf Minuten zurück. Ich will nur Katleen sagen, dass ich eigentlich kommen wollte. Ich bin eingeschlafen, nach deinem Rührei. Danke übrigens. Das war ein sehr gutes Rührei.«
    Als sie das sagte, erschien ein vorsichtiges Lächeln auf dem Gesicht des Jungen, doch es verschwand schnell wieder.
    Svenja stand auf. »Bis gleich«, sagte sie.
     
    Und was, dachte Svenja auf der Treppe, hatte sie genau gemeint mit »Ich bin in fünf Minuten zurück«? Natürlich würde sie zurückkommen, aber dann musste sie zum Histo-Kurs. Würde sie den Jungen noch einmal alleine in der Wohnung lassen? Die letzte Gelegenheit hatte er zumindest nicht genutzt, um ihre Sachen zu klauen (aber was sollte er mit ihren Kleidern und ein paar Medizinbüchern?) oder das Haus anzuzünden.
    »Was würdest du tun?«, sagte sie zu dem Klingelschild mit dem Namen
Katleen Frank
. »Was würdest du tun, wenn er dir zugelaufen wäre?«
    Der Türsummer blieb stumm.
    Natürlich. Es war kurz nach neun, vermutlich saß Katleen in irgendeiner Vorlesung. Svenja hätte auch in irgendeiner Vorlesung sitzen sollen. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie Katleen überhaupt sehen wollte. Ihre Art, Gemüse zu exekutieren, und ihre Art, Leute sofort und beinahe im Befehlston einzuladen, waren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher