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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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auch gleich besser.«
    »Was redest du da eigentlich?« Naokos Stimme klang auf einmal rauh.
    An ihrem Ton erkannte ich, daß ich wohl etwas Falsches gesagt hatte.
    »Warum sagst du so was?« Naoko starrte auf die Erde zu ihren Füßen. »›Alles wird leichter, wenn man sich entspannt.‹ Das weiß ich selbst. Und es nützt mir überhaupt nichts, wenn du mir das sagst. Wenn ich mich entspanne, zerfalle ich in tausend Partikel. Mit diesem Gefühl lebe ich schon lange, damit muß ich weiterleben. Wenn ich mich einmal gehenließe, fände ich keinen Weg mehr zurück. Ich würde zerfallen, und die Fragmente würden in alle Winde verstreut. Warum begreifst du das nicht? Wie kannst du dich um mich kümmern wollen, wenn du nicht einmal das begreifst?«
    Ich schwieg.
    »Ich bin viel verstörter, als du denkst. Düster, kalt und verstört… Warum hast du damals überhaupt mit mir geschlafen? Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen?«
    Die Stille des Kiefernwaldes, den wir nun durchquerten, wirkte bedrückend. Die auf dem Weg verstreuten, ausgetrockneten Panzer der Zikaden, die den Sommer nicht überlebt hatten, knackten unter unseren Schritten. Naoko und ich gingen langsam und mit gesenkten Blicken durch den Wald, als suchten wir etwas, das wir verloren hatten.
    »Entschuldige«, sagte Naoko und nahm sanft meinen Arm. Dann schüttelte sie den Kopf »Ich wollte dich nicht kränken. Nimm dir nicht zu Herzen, was ich gesagt habe. Es tut mir wirklich leid. Ich war bloß wütend auf mich selbst.«
    »Ich glaube, ich verstehe dich noch nicht so richtig«, gab ich zu. »Ich bin nicht besonders helle, und es dauert ein bißchen, bis ich etwas kapiere. Aber wenn du mir Zeit läßt, dann werde ich lernen, dich besser zu verstehen als irgend jemand sonst auf der Welt.«
    Wir hielten inne und lauschten in den schweigenden Wald hinein. Ich wühlte mit der Schuhspitze in den Zikadenpanzern und Kiefernzapfen und schaute hinauf zum Himmel, der zwischen den Zweigen der Kiefern hindurchschimmerte. Die Hände in den Taschen, starrte Naoko nachdenklich vor sich hin.
    »Sag mal, Tōru, liebst du mich?«
    »Natürlich«, antwortete ich.
    »Darf ich dir zwei Dinge sagen?«
    »Klar, sogar drei.«
    Naoko schüttelte lachend den Kopf. »Zwei reichen. Nur zwei. Erstens bin ich dir sehr dankbar, daß du mich besuchst. Damit hast du mir eine große Freude gemacht – mir unendlich viel geholfen. Vielleicht kann ich es nicht richtig zeigen, aber es ist so.«
    »Ich komme dich wieder besuchen«, sagte ich. »Und das zweite?«
    »Ich möchte, daß du mich nie vergißt. Versprich mir, daß du dich immer daran erinnern wirst, daß es mich gab und daß ich hier neben dir gestanden habe? Bitte.«
    »Natürlich werde ich mich immer daran erinnern.«
    Sie sagte nichts mehr und ging mir nun voraus. Das Herbstlicht drang durch die Zweige und tanzte auf den Schultern ihrer Jacke. Wieder bellte ein Hund. Mir kam es vor, als seien wir dem Gebell ein bißchen näher gekommen. Naoko stieg eine kleine Erhebung hinauf, trat aus dem Kiefernwald und rannte einen sanften Abhang hinunter. Ich war zwei oder drei Schritte hinter ihr.
    »Bleib hier bei mir. Der Brunnen könnte hier irgendwo in der Nähe sein«, rief ich ihr nach.
    Naoko blieb stehen, lächelte und ergriff sanft meinen Arm. Den Rest des Weges gingen wir nebeneinander her.
    »Wirst du mich bitte wirklich nie vergessen?« fragte Naoko mit leiser, fast flüsternder Stimme.
    »Niemals. Ich könnte dich nie vergessen.«
    Dennoch scheinen meine Erinnerungen zunehmend zu verblassen. Zu vieles ist mir schon entglitten, und wenn ich die Geschehnisse so aus dem Gedächtnis niederzuschreiben versuche, überfällt mich zuweilen eine schreckliche Unsicherheit. Dann frage ich mich, ob ich nicht vielleicht das Wichtigste ausgelassen habe oder ob es in meinem Inneren einen finsteren Ort, eine Art Gedächtnisfegefeuer, geben könnte, in dem alle wichtigen Erinnerungen zusammengekehrt und in Asche verwandelt werden.
    Wie dem auch sei, mehr habe ich eben nicht in der Hand. Was bleibt mir übrig, als mich an diese bereits schwachen, von Augenblick zu Augenblick mehr verblassenden, unvollständigen Erinnerungen zu klammern und in dem Gefühl, an einem blanken Knochen zu saugen, weiterzuschreiben. Nur so habe ich eine Chance, das Versprechen zu halten, das ich Naoko gegeben habe.
    Früher, als ich noch jung und die Erinnerungen noch viel frischer waren, habe ich oft versucht, über Naoko zu schreiben. Aber niemals brachte ich auch
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