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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln
Autoren: Haruki Murakami
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abspielte, war mehr als undurchsichtig. Niemand wußte etwas Genaues. Einige behaupteten, es gehe um Steuerhinterziehung oder einen Publicity-Trick, während wieder andere vermuteten, das Wohnheim sei nur gebaut worden, damit sich jemand ein Grundstück in bevorzugter Lage unter den Nagel reißen konnte. Jedenfalls gab es im Wohnheim so etwas wie einen Eliteclub, dem Star-Studenten mehrerer Universitäten angehörten. Einzelheiten waren mir nicht bekannt, außer daß sich mehrmals im Monat Arbeitsgemeinschaften trafen, in denen auch die Gründer mitmischten. Die Mitglieder dieses Clubs hatten, was ihren künftigen Arbeitsplatz betraf, ausgesorgt, hieß es. Ich wußte nicht, wie viel an diesen Gerüchten stimmte, aber immerhin spürte man deutlich, daß hier irgend etwas faul war.
    Jedenfalls verbrachte ich zwei Jahre – Frühjahr 1968 bis zum Frühjahr 1970 – in diesem nicht ganz astreinen Wohnheim. Warum ich es solange dort aushielt, vermag ich nicht mehr zu sagen. Im alltäglichen Leben macht es wohl keinen großen Unterschied, ob man in einem rechten oder linken Wohnheim, bei guten oder schlechten Heuchlern lebt.
    Jeder Tag im Wohnheim begann mit dem feierlichen Hissen der japanischen Flagge. Es versteht sich von selbst, daß währenddessen die Nationalhymne gespielt wurde, denn das Hissen der Flagge ist ebensowenig von der Nationalhymne zu trennen wie der Sportpalastwalzer vom Sechstagerennen. Der Flaggenmast stand genau im Zentrum des Geländes, so daß er von allen Fenstern der Wohnheimgebäude sichtbar war.
    Zuständig für die Flaggenzeremonie war der Leiter des Ostgebäudes (in dem auch ich wohnte). Er war ein großer Mann um die sechzig mit scharfem Blick und kurzgeschorenem, graumeliertem Haar. Über seinen wettergegerbten Nacken zog sich eine lange Narbe. Es ging das Gerücht, er sei Absolvent der Nakano-Militärakademie, aber wie üblich gab es dafür keine Beweise. Beim Hissen der Fahne fungierte ein Student als sein Adjutant. Wer dieser Student war, wußte auch niemand. Er trug einen Bürstenschnitt und nie ein anderes Kleidungsstück als seine Studentenuniform. Ich wußte weder, wie er hieß, noch, in welchem Zimmer er wohnte. Im Speisesaal oder im Bad hatte ich ihn auch noch nie gesehen. Vielleicht war er überhaupt kein Student, aber andererseits trug er ja die Uniform. Was hätte er also sonst sein sollen? Neben Herrn Nakano-Militärakademie wirkte er klein, dicklich und blaß. Dieses seltsame Paar hißte also Morgen für Morgen um Punkt sechs Uhr mitten auf dem Hof das Banner der aufgehenden Sonne.
    Als ich noch neu im Wohnheim war, stand ich oft aus Neugier um sechs Uhr auf, um das patriotische Schauspiel zu beobachten. Die beiden erschienen stets exakt in dem Moment auf dem Hof, wenn es im Radio sechs Uhr piepste. Der in der Uniform trug natürlich seine Uniform und schwarze Lederschuhe, Nakano-Militärakademie kam in Anorak und Turnschuhen. Uniform hielt einen flachen Kasten aus Paulowniaholz, während Nakano einen Sony-Kassettenrecorder unter dem Arm trug, den er am Fuß des Mastes abstellte. Uniform öffnete den Kasten aus Paulowniaholz, in dem ordentlich gefaltet die Flagge lag. Ehrerbietig präsentierte er sie Nakano, der sie nun am Seil des Fahnenmastes befestigte, worauf Uniform den Kassettenrecorder einschaltete.
    Die Nationalhymne ertönte.
    Feierlich wurde die Fahne gehißt.
    Bei »Bis zum Fels der Stein geworden« hatte die Flagge etwa halbe Höhe erreicht, bei »übergrünt von Moosgeflecht, tausend, abertausend Jahre blühe, Kaiserliches Reich« war sie ganz oben angelangt. Bei klarem Himmel und frischem Wind boten die beiden, wie sie in strammer Habachtstellung zur Fahne hinaufschauten, einen erhebenden Anblick.
    Am Abend wurde die Zeremonie beim Einholen der Flagge wiederholt. Nur eben umgekehrt. Sie glitt den Mast hinab und wurde in den Paulowniakasten gebettet, denn die Fahne wehte nicht in der Nacht.
    Warum sie abends eingeholt wurde, konnte ich mir nicht erklären. Die Nation existierte doch auch in der Nacht, und viele Menschen arbeiteten während dieser Zeit: Schienenarbeiter, Taxifahrer, Bardamen, Feuerwehrleute und Nachtwächter. Es kam mir ungerecht vor, daß die Nachtarbeiter so nicht in den Genuß nationalen Schutzes kommen konnten. Oder vielleicht kam es auch gar nicht darauf an und es war allen egal – außer mir. Und selbst ich dachte nur darüber nach, weil sich mir ein Anlaß geboten hatte.
    Den Hausregeln entsprechend wurden die Erst- und Zweitsemester auf
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