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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin
Autoren: Heyne
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frisch gegelten Haare. »Wo bleiben die? Warum kommen die nicht? Sind die zu blöde, die Adresse zu finden?«
    Er rannte vor die Tür, aber noch war kein Rettungswagen in Sicht.
    Fuchsteufelswild kam er ins Wohnzimmer zurück. »Da muss so eine arme Frau krepieren, nur weil der Rettungsdienst in diesem tollen, hochgelobten Land eine halbe Stunde braucht, um zu Hilfe zu kommen. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ich werde diese Ignoranten anzeigen! Zur Rechenschaft ziehen. Die werden sich noch umgucken!«
    In diesem Moment klingelte es. Matthias stürzte zur Tür, nahm Haltung an, fuhr sich noch einmal korrigierend durch die Haare und öffnete.
    »Haben Sie angerufen?«, fragte der Notarzt, und Matthias nickte. »Wo ist Ihre Mutter?«
    »Im Wohnzimmer. Kommen Sie.« Matthias lief voran, der Arzt und zwei Sanitäter folgten, und Matthias stolperte vor Aufregung über ein Paar Stiefel, deren Spitzen hinter dem Schuhschrank im Flur hervorstanden.
    Dann ging alles sehr schnell. Der Arzt schien sofort zu wissen, was mit Frau von Steinfeld los war, er legte eine Infusion, und dann wurde sie in Windeseile auf eine Trage gelegt, zum Notarztwagen gefahren und hineingeschoben.
    »Ich nehme an, ein Schlaganfall. Fahren Sie bei uns mit?«
    Matthias nickte.
    Als er im Wagen neben seiner Mutter saß, ihre faltige, schmale Hand in seiner hielt und sie unaufhörlich streichelte, flüsterte er ihr tröstende Worte zu, ohne zu wissen, was er sagte, und fühlte sich so hilflos wie noch nie in seinem Leben.

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    Erst auf dem Krankenhausflur wurde ihm bewusst, dass seine Mutter sterben könnte. An diese Möglichkeit hatte er all die Jahre nicht, wirklich noch nie gedacht. Und das gab es auch nicht, das war einfach unmöglich.
    Mama. Sie war immer da, immer zur Verfügung. Eine Welt ohne sie war für ihn undenkbar.
    Jeden Wunsch, den Matthias so ganz nebenbei mal irgendwann erwähnte, merkte sie sich, ohne jemals davon zu sprechen, und erfüllte ihn irgendwann. Vielleicht zwei Jahre später, wenn Matthias schon lange nicht mehr daran dachte.
    Sie war einfach wunderbar. Eine perfekte Dame. Zärtlich, schön und elegant. Aber sie konnte auch Bilder aufhängen, Lampen anschließen, Gardinen nähen, Rumtopf ansetzen und Schwarzwälder Kirschtorte backen. Sie dübelte Regale an die Wände, baute ganz allein und fröhlich pfeifend Schrankwände auf und verlegte Teppichböden und Parkett. Sie konnte einfach alles.
    Auf jede Frage wusste sie einen Rat, immer hatte sie Zeit, nichts ließ sie bis morgen warten, sondern erledigte alles sofort.
    Und so wurde sie zu Matthias’ Königin, seiner Heiligen, und gab seinem Leben einen Sinn.
    Aber jetzt lag die Unsterbliche mit einem Schlaganfall auf der Intensivstation, und die Ärzte versuchten zu retten, was noch zu retten war.
    Er weigerte sich zu begreifen, dass auch seine Mutter nur einen Körper hatte, der vergänglich war und genauso schnell verwesen würde wie jeder andere. Er hatte sie oft und gern umarmt, obwohl sie in den letzten Jahren immer weniger geworden war, aber er war sich bewusst, dass er niemals in der Lage sein würde, sie zu füttern, zu waschen oder ihr gar eine Windel anzulegen.
    Niemals. Unsummen würde er demjenigen zahlen, der das für ihn übernahm. Er würde nicht erlauben, dass diese profanen Dinge seinen Glauben an ihre Einzigartig- und Unvergänglichkeit zerstörten.
    Wie ein Tiger im Käfig ging er auf dem Krankenhausflur auf und ab und war dankbar, dass er nicht sehen konnte, was sie hinter den Milchglasscheiben mit ihr taten, schon ein Schlauch in der Nase war für ihn unerträglich, und eine gelegte Infusion auf ihrem Handrücken jagte ihm allein bei der Vorstellung einen wilden Schmerz durch den Körper, der ihn zusammenkrümmte.
    Mama.
    Mach die Tür auf, komm heraus, lächle und sage: »Es ist alles gut, komm, mein Junge, mach dir keine Sorgen, wir gehen nach Hause.«
    Wenn dieses Wunder irgendein Mensch vollbringen konnte, dann sie.
    So wartete er vier Stunden, aber sie kam nicht.
    Der Termin mit Dr. Hersfeld war vorbei, aber es war ihm nicht bewusst, er hatte ihn vergessen. Nicht eine Sekunde hatte er an seinen Kunden gedacht, der vielleicht eine Drei-Millionen-Villa bei ihm kaufen würde. Er hatte noch nicht einmal mit seinem Büro telefoniert und um eine Verschiebung des Termins gebeten. Er hatte gar nichts getan.
    Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen, die Zeit verging, und er merkte es nicht.
    Mama, bitte, verlass mich nicht.
    Um kurz vor neunzehn Uhr kam
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