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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin
Autoren: Heyne
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sagte wir, dabei saß sie im Sessel und ließ ihn tanzen wie eine Puppe.
    Er stürmte ins Zimmer, schrie: »Guten Morgen, Pater Dominikus!«, machte eine wüste Verbeugung und wollte aus dem Zimmer rennen, als sie ihn bremste.
    »Noch einmal, bitte.«
    Matthias rannte zurück und wiederholte das Ganze. Kein bisschen anders, kein bisschen besser. Henriette brüllte jedes Mal: »Noch einmal, und streng dich endlich an, verdammt noch mal!«
    Es war ein Spießrutenlaufen. Immer und immer wieder von vorn. Henriette schrie und Matthias lief, brüllte, verbeugte sich, flüchtete.
    »Wir können das auch hundertmal so weitermachen – bis heute Abend!«, sagte Henriette schließlich. »Ich habe Zeit.«
    Sie sah unerbittlich aus und saß in ihrem Sessel, als könnte sie nicht nur bis heute Abend, sondern noch hundert Jahre dort sitzen bleiben. Matthias wusste, dass er auf jeden Fall verlieren und dieser Hölle nur entkommen würde, wenn er sich wirklich anstrengte und die Schmach hinunterschluckte.
    Beim fünfundzwanzigsten Mal kam er zum ersten Mal langsam in den Raum, blieb vor Henriette stehen, sagte leise, schluchzend und unter Tränen »Guten Morgen, Pater Dominikus«, während er die Hände auf dem Rücken zur Faust ballte und sich artig, beinahe zu tief, verbeugte. Dann drehte er sich langsam auf den Zehenspitzen weg und verließ das Zimmer.
    »Sehr schön«, sagte seine Mutter. »Sehr, sehr schön. Ich erspare es dir, dies jetzt noch hundertmal zu wiederholen, aber du weißt ja, worum es geht. Und ich wünsche, dass du Pater Dominikus jetzt jeden Morgen in dieser Form begrüßt! Hast du das verstanden?«
    Matthias nickte und hoffte, dass die Tränen, die in seinen Augen schwammen, nicht die Wangen herunterlaufen würden. Er wollte nicht, dass seine Mutter sah, wie sehr sie ihn gedemütigt und dass sie ihn letztlich kleingekriegt hatte.
    »Geh auf dein Zimmer«, meinte sie abschließend und erhob sich aus dem pompösen Ohrensessel, »vielleicht wird ja doch noch mal etwas aus dir.«
    In diesem Moment hatte er sie gehasst und geglaubt, in ihrer Nähe nie wieder befreit atmen zu können, sondern ersticken zu müssen.
    Aber jetzt, fast fünfunddreißig Jahre später, war er ihr fast dankbar für die Lektion, die sie ihm erteilt hatte. Aus ihm war ein höflicher Mensch geworden, der sich zu benehmen wusste, sich auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher bewegte und sich in Adelskreisen zu Hause fühlte, denen er eigentlich nur noch dem Namen nach angehörte.
    Obwohl er seine Mutter verstand und die Episode seiner Liebe keinen Abbruch getan hatte, saß diese Schmach doch immer noch als nie verheilende Wunde wie ein spitzer Pfeil in seiner Seele.
    Ganz in Gedanken hatte er das ältere Paar aus den Augen verloren.
    Sekunden später sah er dem Deutschen Dom gegenüber einen jungen Mann aus der Brasserie kommen. Er war nicht besonders groß, leicht dicklich, hatte etwas zu langes, brünettes Haar, und Matthias schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Vielleicht war er auch erst neunzehn.
    Es war dieses unglaubliche Phänomen des instinktiven Erkennens, das kein Außenstehender nachvollziehen konnte und niemals begreifen würde. Matthias wusste sofort, dass er der Richtige war und ging auf ihn zu.
    Der andere lehnte lässig neben dem Hauseingang und rauchte eine Zigarette. Erst jetzt sah Matthias den angewinkelten Arm und die nach hinten abgeknickte »gebrochene« Hand, die die Zigarette hielt, als wollte er sich auf die Schulter aschen. Das war eindeutig. Vielleicht hatte er dieses Zeichen gewählt, weil er seinerseits auch Matthias längst entdeckt hatte.
    Einige Meter vor ihm blieb Matthias stehen und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Zu lange für einen unabsichtlichen, flüchtigen Moment und zu kurz für eine wirkliche Kontaktaufnahme. Matthias wusste nicht genau, wer als Erster weggesehen hatte, aber das war jetzt nicht wichtig. Er ging scheinbar achtlos und uninteressiert an ihm vorbei, streckte dabei jedoch das Kreuz und hob den Kopf ein wenig an, als wollte er Teller auf seinem Scheitel balancieren.
    Und er hatte sich nicht getäuscht. Der junge Kerl folgte ihm.
    Matthias ging schneller, und auch der andere beschleunigte seinen Schritt.
    Dann blieb Matthias stehen und tat, als suchte er etwas in seinem Jackett – der junge Mann überholte ihn zwangsläufig. Und nun wiederholte sich das Spiel, jetzt folgte ihm Matthias.
    Es war wie ein dreiminütiger Balztanz.
    Auf einmal standen sie sich wie auf Kommando gegenüber und
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