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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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sich nach uns umzudrehen.
    Ich rückte mir den Cowboyhut zurecht.
    Anstatt loszuheulen und Mutter hinterherzulaufen, um nach ihrer Hand zu greifen, schlurfte Ingrid neben mich, bis sich unsere Arme berührten. Es kribbelte. Zusammen sahen wir Mutter hinterher, wie sie allmählich verschwand.
    »Kommt Mama wieder?«, fragte Ingrid.
    »Ich glaube nicht.«
    Schließlich nahm Ingrid meine Hand, und ich massierte ihre Finger. Wir ließen uns nicht los, bis wir zu Hause waren.

|329| Dezember 2007
    Mit einem Lächeln versicherte uns der Arzt, dass er sofort zurück wäre, schob den Pieper in die Tasche seines Kittels und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ingrid und ich blieben im Linoleumgeruch des Krankenhauszimmers zurück. Das grünliche Licht ließ den Raum schimmern wie ein Aquarium, und das Fiepen der Geräte wirkte wie ein Echolot. Der Moment drückte uns unter Wasser. Wir hielten die Luft an.
    Insgesamt gab es vier Betten, von denen aber nur zwei belegt waren. In ihnen lagen regungslos Frauen, denen über Beatmungsgeräte, Schläuche und Ernährungsbeutel Leben in ihre Körper gepumpt wurde. Nach und nach schwoll das Summen und Keuchen der Geräte an, konnte aber nicht die einschläfernde Stille übertönen, die im Raum herrschte.
    Schließlich wagte Ingrid es, zu atmen, und fragte flüsternd: »Welche ist denn Mama?« Ich zuckte mit den Schultern und ging einige vorsichtige Schritte in den Raum, als würde ich über einen zugefrorenen See laufen. Beide Frauen waren im etwa gleichen Alter, und ihre Gesichter verschwanden hinter Atemmasken, um die herum sich ein wunder Rand zog. Die Haare klebten an ihren Schläfen, über die sich, genau wie über die Stirn, ein dünner Schweißfilm zog. Angstschweiß, dachte ich. Der Körper weiß, dass er stirbt, und sendet diese Information ununterbrochen ans Hirn, ohne eine Rückmeldung zu bekommen, während die Maschinen ihm Leben vorgaukeln. Irgendwo hinter einer Mauer aus Schmerzmitteln haust der Rest eines Menschen und darf nicht gehen.
    Mein Blick wanderte von einem Bett zum anderen. »Keine Ahnung«, sagte ich und verzog ratlos den Mund.
    |330| Ingrid starrte schnaufend ins Nichts. Mit einem Mal spürte ich ihre Müdigkeit auch in mir. Der Tag auf der Autobahn steckte mir in den Knochen, und das Dröhnen des Motors hallte noch immer in meinen Ohren nach. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Bäume oder vollgeschmierte Lärmschutzwände vorbeirauschen.
    Lange hatte der Umweg nicht gedauert, den wir gemacht hatten. Ich hatte lediglich geklingelt und jemandem, der aussah, als sei er Mitglied im Schweizer Schwiegersohn-Verein, den Rucksack in die Hand gedrückt. Ingrid und ich waren weitergefahren, ohne über die Sache zu reden.
    Ingrid stand am Fußende eines der Betten und betrachtete prüfend die Frau darin. Dann kramte sie in ihrer Handtasche und holte ein Foto heraus. Ich stellte mich hinter sie und linste über ihre Schulter. Auf dem Foto zu sehen war Ingrid als kleines Mädchen, wie sie mit klatschnassen Haaren und freiem Oberkörper auf einer Decke saß, ärgerlich in die Kamera guckte und die Zunge rausstreckte. Vor ihr hockte eine Frau, die ihr ein T-Shirt hinhielt. Am rechten Rand des Fotos sah man den ausgestreckten Arm eines Kindes ins Bild ragen.
    »Das hier ist sie«, sagte Ingrid, und ihr Blick wanderte vom Foto zur Frau im Bett und zurück. »Die Nase, guck mal.« An ihrer Unterlippe knabbernd, musterte sie die Frau. »Früher hat Mama vollere Haare gehabt«, murmelte sie und sah zu der Frau im anderen Bett, deren Haare noch dünner waren. Ingrid setzte sich auf den Rand des Bettes, vor dem wir standen, und wedelte mit dem Foto.
    »Da war ich so sauer auf dich«, sagte sie.
    »Auf mich?«
    »Weil du mich ins Wasser geschubst hast.«
    Ich nahm ihr das Foto aus der Hand und setzte mich auf die andere Seite des Bettes.
    »Wo hast du das denn her?«, wollte ich wissen.
    »Das hat mir Mutter aus dem Gefängnis geschickt«, antwortete |331| Ingrid und streichelte Mutter mit den Fingerspitzen über den Arm.
    »Gefängnis?«, fragte ich.
    »Ja«, antwortete Ingrid beiläufig. Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, sagte sie: »Haben die dir das im Heim etwa gar nicht erzählt? Mama war doch im Gefängnis, weil sie mit diesem Franz Drogen geschmuggelt hat oder so was.«
    Ich nickte nur. »Woher weißt du das denn?«
    »Meine Pflegeeltern haben mir das erzählt. Die waren immer ganz offen mit solchen Sachen. Mama war erst im Gefängnis, und weil sie ihr das
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