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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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wusste, wohin ich zuerst gucken sollte.
    Ingrid war noch zu klein für viele der Fahrgeschäfte, und Mutter traute sich in die anständigen Sachen nicht rein, sodass die beiden mit Oldtimern durch Märchenwelten aus Plastik eierten oder Karussell fuhren, während ich die Achterbahn oder die Schiffschaukel alleine ausprobierte. Weil mir die beiden zu langweilig waren, trennten wir uns, verabredeten einen Treffpunkt und Mutter gab mir ihre Uhr und einen Zwanzig-Mark-Schein. Zuerst fuhr ich sieben Runden mit der Loopingbahn. Immer wenn die Wagen nach dem Anstieg in die Tiefe stürzten, legte ich meinen Kopf weit zurück, streckte die Hände in die Luft und spürte den Wind zwischen |321| meinen Fingern. Ich schrie, so laut ich konnte, und wenn wir uns durch den Überschlag und den anschließenden Korkenzieher schraubten, sah ich erst Wolken am Himmel über mir und dann das Gerüst der Achterbahn wie dazwischengeschüttelt, bis es kein Oben und Unten mehr gab, und fühlte mich sicher. Weil die Fahrten nichts kosteten, verkloppte ich Mutters Geld für Süßigkeiten, Pommes mit Mayo und einen schwarzen Cowboyhut samt Colt. Ich entdeckte eine Schießbude, später die Go-Karts und verprasste das restliche Geld an einem Dracula-Flipper, an dem ich den High-Score schaffte. Anschließend wurde ich in der Wildwasserbahn durchgeweicht, schubberte mir die Knie in einer Hüpfburg wund, und zum Abschluss rotzte ich ins Delphinbecken.
    Als ich schließlich am Spielplatz ankam, wo wir uns treffen wollten, saß Ingrid barfuß auf einer Schaukel und Mutter gab ihr Anschwung. Eine Weile sah ich den beiden zu. Ingrid lachte. Immer wenn die Schaukel im Aufschwung stoppte und für einen Sekundenbruchteil schwerelos in der Luft stand, bevor sie zurückschwang, schloss ich die Augen. Ich wusste genau, wie es sich anfühlte.
    Ich zog mir den Cowboyhut tief ins Gesicht, wie ich es bei einem Schwarz-Weiß-Western gesehen hatte, und stürmte auf die beiden zu.
    »Hände hoch!«, rief ich, ballerte mit der Pistole herum. Mutter riss die Hände in die Luft.
    »Nicht schießen!«
    Ingrid hüpfte von der Schaukel und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis.
    »Ein Drehwurm«, rief Mutter. »Achtung! Ein Drehwurm!«
    »Dreeeeh-wurm«, lachte Ingrid.
    Mutter lächelte.
    »Achtung! Achtung!«, brüllte ich, so laut ich konnte, damit die Leute auf dem Spielplatz auf uns aufmerksam wurden und uns lachen sahen. Mutter kniete sich zu mir herunter und tat so, als würde sie sich hinter mir verstecken.
    |322| »Pass auf! Da hinten. Indianer!«, sagte sie. Ich verschanzte mich hinter einer Wippe, roch die verkohlten Munitionsstreifen, spürte das Gras an meinen Knien und hörte das Klappern und Quietschen der Fahrgeschäfte, musste rülpsen, schmeckte die Pommes und schoss auf die unsichtbaren Indianer.
    Jemand tippte mir auf die Schulter. Es war ein Junge in meinem Alter, ebenfalls mit Cowboyhut und Pistole.
    »Darf ich mitspielen?«, fragte er.
    »Wie heißt du?«
    »Ronny«, sagte er. Weil ich fand, dass das ein super Name war, sagte ich: »Ich auch.« Nachdem er mir einen überraschten Blick zugeworfen hatte, knöpften wir uns unter lautem Gebrüll die Rothäute vor.
    Nach einer Weile lief Ronny zu seinen Eltern, die ein Stück entfernt saßen. Seine Mutter hockte auf einer Decke und kramte Tupperschalen und Teller aus einer Tasche, während sein Vater damit beschäftigt war, an einer Grillstelle Kohle zum Glühen zu bringen. Ich setzte mich zu Mutter und Ingrid, die auf einer Bank Brause tranken. Ingrid fielen schon die Augen zu.
    »Mama, ich heiße Ronny, ja?«
    »Na klar, Ronny«, sagte sie und drückte mir die warme Dose in die Hand.
    »Hallo?«, rief Ronnys Vater zu uns herüber. »Wollen Sie mit uns grillen? Wir haben viel zu viel eingepackt.«
    Bevor Mutter antworten konnte, klammerte ich mich wie ein Äffchen an ihren Arm und sah sie bettelnd an, obwohl ich noch pappsatt von den Pommes war.
    »Gerne«, rief sie zurück.
     
    Wir saßen im Schatten nicht weit von einem künstlich angelegten Teich voller Goldfische, bekamen Bratwürste und Kartoffelsalat und tranken Cola. Während Ingrid zusammengerollt eingedöst war, probierten Ronny und ich aus, wie viel Wurst wir in den Mund bekamen. Die Kohle knackte |323| und knisterte. Ronny kaute knatschend Bratwurst, grinste und sagte: »Guck mal.« Damit riss er seinen mit Ketchup verschmierten Mund auf, sodass ich auf die zermantschte Wurst starrte, die er mit seiner Zunge hin- und herschob. Im
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