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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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rief sie. »Wirf mal eine Zigarette runter.«
    Inzwischen hatte sich Ingrid rittlings auf einen der Küchenstühle gesetzt, und ihre Beine baumelten durch die Streben der Rückenlehne, gegen die sie ihr Kinn presste. Aus der Schachtel auf dem Küchentisch fischte ich eine Zigarette, und als ich zurück ans Fenster kam und Franz mich sah, winkte er mir zu.
    »Na, starker Mann? Alles paletti?«
    Wortlos warf ich die Zigarette hinunter, und er fing sie in der Luft, ohne sie zu zerknicken.
    »Gesehen?«, fragte er. »Das kommt vom Boxen. Reaktionen.«
    Ich sagte nichts.
    Obwohl Franz ein Feuerzeug dabeihatte, fragte er Mutter: »Hast du ein Licht?«, und sie fummelte ihres umständlich aus der Hosentasche. Nachdem er sich die Kippe angezündet hatte, steckte er es kommentarlos ein und spazierte mit wippendem Gang davon.
    »Gib mal der Kleinen einen Kuss von mir«, rief er, bevor er um die Ecke verschwand.
     
    Einige Minuten später saß Mutter am Küchentisch und stützte mit beiden Händen ihren Kopf, als sei er aus Blei. Ingrid stand daneben und zuppelte an Mutters T-Shirt herum.
    »Ingrid, jetzt nicht«, sagte Mutter und rieb sich durchs Gesicht. Draußen knatterte und röchelte wieder ein Mofa, und die Jungen fluchten.
    »Rick, du hast doch in der Schule Straßenbahnfahren gelernt, oder? Kommst du alleine von hier zum Bahnhof?« Ich nickte. »Pass auf. Wir treffen uns um halb elf vor dem Bahnhof, ja? Da fahrt ihr kurz zusammen hin. Wir treffen uns an der Litfasssäule direkt davor. Du nimmst Ingrid, den Rucksack und die Fahrkarten. Ich komme dann da hin, okay? Schaffst du das?« Bevor ich wieder nickte, zuckte ich mit den Schultern. »Sicher?«
    |314| »Ja.«
    »Okay«, murmelte Mutter. Dann wandte sie sich Ingrid zu, die, an ihrer Sandale herumfingernd, auf einem Bein balancierte und sich dabei an Mutters Arm abstützte.
    »Oh, wie hast du ihr die denn wieder angezogen, Richard?«
    »Das hat sie selber gemacht.«
    »Da musst du ihr doch kurz bei helfen«, sagte Mutter und hockte sich vor Ingrid auf den Boden. »Stell dich mal richtig hin, Kleine«, sagte sie und fummelte an der Sandale herum. Ingrid hatte die Verschlüsse nicht richtig zubekommen, eine der Schnallen war nach innen verdreht und unter ihren Fuß gerutscht.
    »Das ist total verdrabbelt«, nölte Mutter. »Und die sind zu klein, Richard.«
    »Sie hat sonst keine anderen Schuhe. Nur die dicken.«
    »Und die blauen?«
    »Die passen nicht mehr.«
    »Stütz dich mal an meinen Schultern ab«, sagte Mutter und versuchte die Schnalle herauszuziehen, während Ingrids Fuß noch in der Sandale steckte. »Nicht so fest auftreten, Kleine.« Ingrid verstand nicht, was Mutter von ihr wollte, sondern ließ stattdessen ihre Schulter los und wackelte unter dem Gezerre hin und her. »Festhalten«, wiederholte Mutter.
    Ingrid sah fragend zu mir rüber.
    »Zieh ihr die Sandale doch erst mal aus«, sagte ich, aber Mutter sagte: »Das geht auch so.«
    Dann zog sie mit einem kräftigen Ruck an der Schnalle und riss dabei die Sandale unter Ingrids Fuß weg. Die atmete einen erschrockenen Laut ein und verlor das Gleichgewicht, wedelte mit den Armen in der Luft herum, bekam Mutters Haare zu fassen und krallte sich in ihnen fest wie in einem Rettungsseil. Ingrid plumpste auf den Hintern und zog Mutter mit sich, die aus der Hocke nach vorne kippte und auf die Knie schlug.
    »Ksss«, zischte Mutter. Nachdem mich Ingrid eine Schrecksekunde lang verdattert angeguckt hatte, wollte sie wohl gerade |315| losplärren, aber noch bevor ein Ton herausgekommen war, hatte Mutter ihr schon eine Backpfeife verpasst. Die beiden starrten sich abwartend an, als müssten sie noch einmal in Gedanken durchspielen, was gerade geschehen war. Ingrid schnappte nach Luft, und nachdem Mutter ihr noch eine zweite geklebt hatte, heulte sie umso lauter los.
    Mutter erhob sich.
    »Richard, ich muss jetzt kurz los und Geld besorgen. Halb elf, ja? Vorm Bahnhof. An der Litfasssäule. Ich bin dann da. Denk an den Rucksack und die Sachen.«
    Damit verschwand sie im Schlafzimmer, und ich hörte sie im Schrank in ihren Klamotten kramen, bevor sie mit einer Reisetasche über der Schulter aus der Wohnung huschte.
    Gerade erst war die Tür zugefallen und Mutters Schritte bollerten noch im Treppenhaus, da hörte Ingrid von einer Sekunde auf die andere zu weinen auf, saß mit Schmollmund auf dem Boden und zog die Nase hoch. Die Beine von sich gestreckt, knibbelte sie am Saum ihres Kleids herum. In der Ecke brummte der
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