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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben
Autoren: Aufbau
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Gegenzug rülpste ich ihn an. Wir lachten. Mutter setzte einen Gesichtsausdruck auf, als wolle sie mich ermahnen, bremste sich aber und blieb stumm. Ronnys Vater las in einem Buch und schob sich ein Stück fettiges Bauchfleisch nach dem anderen in den Mund.
    »Sie sind alleine mit den Kindern unterwegs?«, fragte Ronnys Mutter.
    »Ja«, antwortete Mutter. »Mein Mann musste kurzfristig auf Dienstreise nach Frankfurt.«
    »Und Ihr Kleiner heißt auch Ronald?«
    »Ja, nach seinem Großvater.«
    Mutter und ich sahen uns an. In dem Moment schlossen wir einen Pakt miteinander: Dafür, dass ich Ronny hieß, hatte ich ihr nicht in die Parade zu fahren, was ihre Geschichte betraf.
    »Mein Mann ist im Vorstand einer Bank und muss viel hin- und herpendeln«, sagte sie. Ich versuchte wegzuhören, aber es funktionierte nicht. »Hat immer viel zu tun.« Es war, als würde ich einem Artisten bei einem Hochseilakt zuschauen. Zwar wollte ich den Sturz und seine Folgen nicht im Einzelnen mitbekommen, den eigentlichen Moment des Kippens wollte ich aber dennoch nicht verpassen.
    »Und ist das nicht schwierig, mit zwei Kindern auf sich alleine gestellt zu sein?«
    Mutter seufzte. »Wäre schon schön, wenn er mich mehr unterstützen würde, aber er gibt sich Mühe.«
    Mutter erzählte wirres Zeug, aber Ronnys Mutter schien keinen Zweifel an der Wahrheit ihrer Geschichten zu haben. Irgendwann rief Ronny: »Schoschonen!«, sprang auf, schnappte sich seinen Colt und stürmte Richtung Klettergerüst.
    |324| »Guck nach Apachen!«, brüllte ich. »Ich will Winnetou abknallen!«, und rannte ihm hinterher.
    Als wir schließlich zur Decke zurückkamen, wachte Ingrid gerade auf. Ronnys Vater lag ausgestreckt da, las noch immer, und Mutter faselte von einem Sommerurlaub.
    »Dieses Jahr konnten wir uns nicht entscheiden, ob wir nach Spanien oder nach Griechenland wollen«, sagte sie, »und jetzt ist ihm die Arbeit dazwischengekommen. Jetzt fahren wir wohl erst im Winter weg. In die Alpen.«
    »Fahren Sie mal in die französischen Alpen«, sagte Ronnys Mutter. »Waren Sie da schon mal?«
    Mutter schüttelte den Kopf, kramte den Fotoapparat aus dem Rucksack und drückte ihn mir in die Hand. »Mach doch mal Fotos von uns.«
    Ronny hockte sich dazu, und unsere Mütter rückten dicht aneinander. Durch den Sucher betrachtet, sahen sie mit einem Mal aus wie Schwestern. Ich knipste.
    »Mach ruhig noch eins«, sagte Mutter und dann, an Ronnys Mutter gerichtet: »Wir können ja Adressen austauschen, und ich schicke Ihnen Abzüge.«
    Verschlafen tapste Ingrid ins Bild, rieb sich mit dem Handballen die Augen und lehnte sich an Mutter, die den Arm um sie legte und ihr einen Kuss auf den Mund gab. Ingrid schnurrte, und Ronnys Mutter strich ihr mit den Fingerspitzen über den Rücken.
    »Du bist ja ’ne Süße«, sagte sie. »Du freust dich auch, wenn dein Papa wiederkommt, oder?«
    »Mein Papa kommt bald mit Geld, und Ricks Papa ist ein Schwein«, sagte Ingrid und deutete mit dem Finger auf mich. »Schwein«, brabbelte sie noch mal.
    Mit einem Blick wie im Leerlauf sah uns Ronnys Mutter an. Ihr Mann, der die ganze Zeit über unbeteiligt dagelegen hatte, legte das Buch beiseite und setzte sich auf. Mit spitzen Fingern zupfte sich Mutter Blütenblätter von der Bluse, blinzelte und strich sich die Haare hinters Ohr. Ich klammerte |325| mich an den Fotoapparat und hielt die Luft an. Wortlos erhob sich Mutter, nahm den Rucksack und ging. Ronnys Eltern sahen sich irritiert an.
    »Mama«, rief ich. »Ich muss Ingrid erst noch die Sandalen anziehen.«
    Aber Mutter reagierte nicht. Ingrid rappelte sich auf, wackelte barfuß hinter ihr her, und als sie auf Höhe des Teiches waren, griff sie nach Mutters Hand. Ohne hinzusehen, schlug Mutter sie beiseite und erwischte Ingrid dabei am Kopf. Schlaftrunken, wie sie war, geriet Ingrid ins Stolpern und kippte platschend in den Teich. Vor Schreck wurde Mutter stocksteif, ballte ihre Hände zu Fäusten und starrte ins Wasser.
    »Richard!«, rief sie, und ich ließ den Fotoapparat fallen und lief los.
    Sofort sprang auch Ronnys Vater auf. Ingrid strampelte im Wasser, und Mutter stand da, als habe sie sich an sich selbst verschluckt. Ich lief, so schnell ich konnte. Der Hut rutschte mir vom Kopf, und die Pistole fiel aus dem Holster, aber es war egal, denn auf einmal fühlte ich mich tatsächlich wie ein Cowboy, wie ein Held. Fest entschlossen, ihr das Leben zu retten, rief ich: »Ingrid, ich komme!«
    Ronnys Vater überholte
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