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Nachtflug

Nachtflug

Titel: Nachtflug
Autoren: Antoine de Saint-Exupéry
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wahrlich nicht für eine Pünktlichkeitsprämie, sondern um einer Strafe zu entgehen, vor der alle Strafen Robineaus zunichte wurden: dem Tode. So irrte er nutzlos und tatenlos in den Schreibstuben umher.
    Fabiens Frau ließ sich anmelden. Von Unruhe getrieben, saß sie im Sekretärsbüro und wartete darauf, daß Riviere sie empfinge. Die Schreiber warfen verstohlene Blicke auf ihr Gesicht. Sie empfand eine Art Scham und schaute scheu um sich: alles hier schien sie abzuweisen - diese Menschen, die in ihrer Arbeit fortfuhren, als schritten sie über einen lebendigen Körper hinweg; diese Aktenreihen, in denen menschliches Leben, menschliches Leiden nur einen Niederschlag nüchterner Zahlen hinterließ. Sie suchte nach etwas, das ihr von Fabien gesprochen hätte; daheim deutete alles auf den Abwesenden: das halb aufgeschlagene Bett, der angerichtete Kaffee, ein Blumenstrauß … Hier fand sie nichts. Alles widersetzte sich hier dem Mitleid, der Freundschaft, dem Gedenken. Das einzige, was sie zu hören bekam - denn alle dämpften die Stimme vor ihr -, war der ungeduldige Ausruf eines Angestellten, der nach einem Verzeichnis verlangte. ». Das Begleitverzeichnis für die Dynamos, Herrgott! Die wir nach Santos schicken.« Sie hob den Blick zu dem Mann mit einem Ausdruck unendlicher Verwunderung. Dann zu der Wand, an der eine Karte sich breitete. Ihre Lippen zitterten ein wenig, kaum. 
    Sie fühlte beklommen, daß sie hier gleichsam eine feindliche Wahrheit verkörperte, die niemand hören wollte, und bedauerte fast, daß sie gekommen war. Sie kam sich auffällig, ungehörig, wie nackt vor. Sie hätte sich am liebsten versteckt und zwang sich, nicht zu husten oder zu weinen, um sich nicht allzu bemerklich zu machen. Aber die stumme Wahrheit, die aus ihr sprach, war so stark, daß sich die heimlichen Blicke immer wieder und wieder zu ihr stahlen, um sie ihr vom Gesicht abzulesen. Diese Frau war sehr schön. Sie offenbarte diesen Menschen die geweihte Welt des Glücks. Sie offenbarte ihnen, an welcher erlauchten Substanz man, ohne es zu wissen, sich versündigt, indem man sich der Welt der Tat verschreibt. Sie offenbarte ihnen, indem sie die Augen unter all den Blicken schloß, welchen Frieden man zerstören kann, ohne es zu wissen.
    Riviere empfing sie.
    Sie kam, um schüchtern für ihre Blumen, ihren angerichteten Kaffee, ihr junges Fleisch und Blut das Wort zu führen. Aber in diesem noch kälteren Raum befiel das leise Zittern wieder ihre Lippen. Auch sie fühlte - wie zuvor Riviere -, daß sie hier in dieser Welt nicht von ihrer Welt würde reden können. Alles, was ihr die Brust mit einer fast wilden Innigkeit erfüllte, nahm sich hier so ungelegen, so selbstsüchtig aus. Sie hätte fliehen mögen: 
    »Ich störe Sie …«
    »Gnädige Frau«, sagte Riviere, »Sie stören mich durchaus nicht. Aber leider, gnädige Frau, bleibt uns beiden nichts anderes übrig als zu warten.«
    Sie erwiderte mit einem schwachen Achselzucken. Riviere verstand den Sinn: Wozu die Lampe, das angerichtete Essen, die Blumen, zu denen ich nun wieder zurück muß …‹ Eine junge Mutter hatte ihm einmal gesagt: »Ich habe den Tod meines Kindes noch nicht begriffen. Die kleinen Dinge sind das Schwere; die Kleider, die mir wieder in die Hand kommen; und in der Nacht, wenn ich aufwache, das zärtliche Gefühl, das mir immer noch ans Herz steigt, nutzlos jetzt, wie meine Milch …« Auch dieser Frau würde der Tod Fabiens erst ganz allmählich zum Bewußtsein kommen, in jedem jetzt nutzlosen Tun, in jedem Gegenstand. Fabien würde sein Heim nur langsam verlassen. Riviere schwieg in tiefem Mitleid. 
    »Gnädige Frau …«
    Die junge Frau zog sich zurück, mit einem fast demütigen Lächeln, ihrer eigenen schmerzlichen Macht unbewußt.
    Riviere setzte sich schweren Herzens wieder an seinen Tisch.
    ›Aber sie hilft mir finden, wonach ich suchte …‹
    Er trommelte zerstreut mit den Fingern auf den Streckenmeldungen der Nordstationen, ›Wir wollen nicht ewig leben, aber wir wollen nicht alles Tun und alle Dinge plötzlich jeden Sinn verlieren sehen. Dann zeigt sich die Leere, die uns umgibt …‹ Sein Blick fiel auf die Telegramme:
     ›Und das ist die Art, wie der Tod sich uns zum Bewußtsein bringt: die Meldungen da, die keinen Sinn mehr haben …‹
    Er schaute auf Robineau. Der mittelmäßige Bursch war jetzt auch nutzlos, hatte auch keinen Sinn mehr.
    Riviere sagte fast schroff zu ihm: 
    »Muß ich Ihnen Arbeit anweisen?« 
    Dann stieß
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