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Nachtengel

Titel: Nachtengel
Autoren: Danuta Reah
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war so früh morgens noch leer, und sie konnte direkt vor dem Arts Tower parken. Sie bog den Kopf nach hinten, um an dem Gebäude hochzusehen. An windigen Tagen tat sie das manchmal und sah die Wolken vorbeiziehen, bis es ihr vorkam, als bewege sich der Turm und die Wolken stünden still. Sie holte ihre Aktentasche vom Rücksitz und schloss den Wagen ab.
    Sie sah auf ihre Uhr. Halb acht, noch genug Zeit. Sie ließ sich die Vorbereitungen für das Meeting durch den Kopf gehen. Roz war die ranghöchste Forschungsassistentin der Gruppe für forensische Linguistik, die Law-and-Language-Group, ein kleines, erst vor kurzer Zeit an der Universität gegründetes Team, das von Joanna Grey geleitet wurde. Als Roz vor einem Jahr nach Sheffield gekommen war, hatte sie eine Stelle am Linguistischen Seminar angenommen, in der Hoffnung, ihre Forschungsarbeit zu Befragungsmethoden weiterverfolgen zu können. Die ehrgeizige und umtriebige Joanna hatte sie ermutigt, ihre Fähigkeiten beim Erstellen von Computersoftware und Sprachanalysen auszubauen, und ihr dann das Feld der forensischen Linguistik näher gebracht, einen im Wachsen begriffenen Bereich, der sich mit sämtlichen Aspekten von Sprache in der juristischen Praxis befasste.
    Während sich Roz in der neuen Abteilung eingewöhnte, wurde ihr klar, dass Joanna bestrebt war, mit großer Sorgfalt ein Team aufzubauen. Roz hatte früher über den Subtext von Verhören geforscht, das heißt, die subtilen Nuancen untersucht, die in solch einer Situation in den Antworten der Betroffenen mitschwangen. Gemma Wishart, eine erst vor kurzem von Joanna eingestellte Forschungsassistentin, spezialisierte sich auf das Englisch, das von Personen osteuropäischer Herkunft gesprochen wurde.
    Joanna hatte ihr Projekt mit Umsicht organisiert und sich für die beiden Zuschussanträge die Unterstützung des derzeitigen Seminar-Direktors, Peter Cauldwell, gesichert. Der eine Zuschuss war gedacht für die Analyse aufgezeichneter Polizeiverhöre, mit der Absicht, Lehrmaterial und Software zu erstellen, und der andere, um Systeme zur Feststellung der regionalen und nationalen Herkunft von Asylbewerbern zu entwickeln. Zugleich hatte sie das Ziel verfolgt, eine unabhängige Forschungsgruppe aufzubauen, die in den verschiedenen Gremien und Komitees innerhalb der Universität vertreten war. Dort waren damals alle dafür, dass Gruppen sich mit Drittmitteln selbst finanzieren sollten.
    Als sie ihre Gelder zusammengetragen hatte, griff Joanna nach der Freiheit und etablierte die Law-and-Language-Gruppe als unabhängiges Forschungsteam. Ein Jahr hatte sie Zeit, zu beweisen, dass die Gruppe Gewinne erwirtschaften konnte. Der Zuschuss hielt sie über Wasser und daneben erledigten sie routinemäßig die juristischen Aufträge, die Joanna schon seit Jahren immer wieder bekam: Dokumentenanalyse, Untersuchung von Zeugenaussagen, Wiederauffinden gelöschter Computerdateien, Arbeiten mit Audio- und Videobändern.
    Die heutige Konferenz war das erste einer ganzen Reihe von Treffen mit den Leuten, die dem Projekt jederzeit ein Ende machen konnten, indem sie ihm ihre Unterstützung entzogen. Alles musste so glatt, effizient und effektiv laufen wie ein gut geschriebenes Computerprogramm. Es ging um die Leute mit den finanziellen Mitteln. Die wollten nichts von der Theorie reiner Forschung oder von abstrakten Zielen wissen, die die Grundlagenforschung monate- und jahrelang beschäftigte. Sie wollten hören, was Joanna und ihr Team an Leistungen erbrachten.
    In Joannas Terminplanung war eine unabwendbare Schwierigkeit aufgetreten. Am Tag zuvor hatte sie ein Meeting gehabt und verließ sich deshalb darauf, dass Roz alles organisierte. »Ich komme rechtzeitig, vor neun«, hatte sie gesagt, bevor sie ging. »Auf dem Weg hierher nehme ich Gemma mit. Sieh zu, dass alles vorbereitet ist.« Roz eilte durch die Pforte, und das Wissen um ihre Verantwortung ließ ihren Adrenalinspiegel steigen. Der Pförtner grüßte sie, während sich die Türen hinter ihr schlossen. »Morgen, Frau Dr. Bishop.«
    Sie nickte etwas zerstreut. »Morgen, Dave«, sagte sie und nahm den vertrauten Geruch der Universität wahr. Meistens ging sie über die Treppe zu ihrer Abteilung hinauf, ihr einziges Zugeständnis an ihre Fitness, heute aber hatte sie sich für das Meeting in Schale geworfen, und ihre Schuhe waren nicht zum Treppensteigen geeignet. Sie ging am Aufzug vorbei und trat, von seinem regelmäßigen Klappern angezogen, auf die Plattform des
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