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Nachtblind

Nachtblind

Titel: Nachtblind
Autoren: John Sandford
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blickten in dieser mondlosen Nacht auf ihn herab; er sah über die Baumspitzen hoch zur Milchstraße – nein, nicht eine Million, eine Milliarde Sterne wie glitzernde Seifenblasen …
     
     
    Davenport war ein großer Mann; er fuhr im Alltag einen Porsche, passte aber körperlich besser in den großen Tahoe. Er hatte schwarzes, von einigen grauen Strähnen durchzogenes Haar und war vom häufigen Aufenthalt in der Sonne dunkel gebräunt wie ein Sizilianer. Das braune Gesicht ließ die Augen blauer und heller erscheinen, als sie sowieso schon waren, das Glänzen der Zähne beim Lächeln weißer. Frauen hatten ihm gesagt, seine Augen könnten gelegentlich freundlich wirken, sogar sanft wie die eines Priesters, aber sein Lächeln mache sie nervös. Eine dieser Frauen hatte gesagt, sein Lächeln sei das eines Raubtiers, das sich daranmacht, irgendetwas Scheußliches zu verschlingen.
    Auf dem Gesicht und am Hals hatte er Narben. Eine lange dünne Linie durchzog eine Augenbraue bis hinunter zur Wange, sah nach Messerschnitt aus. Eine andere Narbe am Hals hatte die Form eines Ausrufungszeichens – die dünne Linie eines Einschnitts, senkrecht über der Luftröhre, darunter das runde Einschussloch einer Pistolenkugel. Er war an dieser Schussverletzung beinahe gestorben, aber ein Arzt hatte mit einem Taschenmesser seine Kehle aufgeschnitten und ihn so lange beatmet, bis man ihn auf den Operationstisch geschafft hatte. Ein Facharzt für plastische Chirurgie hatte ihm angeboten, die Narben zu beseitigen, aber er wollte das nicht, und wenn er über etwas nachdachte, strich er immer wieder mit den Fingerspitzen darüber; sie waren ja nicht zuletzt Erinnerungen an einschneidende persönliche Erlebnisse.
    Der Weg zum Highway war schmal und dunkel, aber er hatte keine Eile. Er fuhr auf dem Highway 77durch Hayward, wechselte in Spooner auf den Highway 70, überquerte die Staatsgrenze von Minnesota, fuhr auf der Interstate 35 weiter. Um zehn Uhr erreichte er die nördlichen Ausläufer der Citys, das Boot immer noch im Schlepptau, Es gehörte einem Mann namens Herb Clay, der auf einer alten Farm südlich von Forrest Lake, nicht weit von der Interstate entfernt, wohnte.
    Lucas fuhr in den Hof, am Wohngebäude vorbei zur Scheune und wendete davor in einem engen Kreis. Er ließ den Motor laufen und kletterte aus dem Truck. Das Licht auf der Veranda ging an, und gleich darauf humpelte Clay aus der Haustür. Er hatte ein Bein in Gips und ging auf Krücken. »Bist du’s, Lucas?«
    »Ja, ich bin’s«, antwortete Lucas. »Was macht das Bein?«
    »Juckt wie die Hölle unter dem Gips«, klagte Clay »Hast du keinen Kleiderbügel, um dich damit zu kratzen?«
    »Ja, sicher, aber es gibt immer Stellen, an die man nicht rankommt.« Clays Frau Verna kam aus dem Haus, schlüpfte in eine Quilt-Jacke. Sie ging eilig über den Hof zur Scheune.
    »Ich mache das Tor auf«, rief sie. Sie zog eine Tür an der Seite der Scheune auf. Sie war niedriger als das Scheunentor und führte in eine Ecke der Scheune, die vor hundert Jahren wohl als Melkstall gedient hatte, jetzt aber als Garage hergerichtet war. Sie machte das Licht an, und Lucas stieg wieder in den Truck und bugsierte den Anhänger mit dem Boot rückwärts in die Garage.
    »Stopp!«, schrie Verna, als das Boot weit genug in der Garage stand. Lucas hielt an, stieg aus, und gemeinsam koppelten sie den Anhänger ab. Im Inneren der Scheune roch es, so viele Jahre nach dem letzten bäuerlichen Besitzer, immer noch leicht nach Heu und Dung; ein sehr angenehmer Geruch. Clays Frau schloss die Tür wieder hinter ihnen, und die beiden blieben einen Moment beieinander im Hof stehen und sahen hoch zu den Sternen.
    »Schöner Abend«, sagte sie. Sie war eine kleine, schlanke Frau mit dunklem Haar und einem markanten Gesicht. Sie und Lucas hatten sich immer gemocht, und wenn die Dinge anders und die Clays kein so glückliches Paar gewesen wären … Sie roch gut, nach einer leicht parfümierten Seife.
    »Ja, schöner Abend«, bestätigte er.
    »Danke, dass du uns mit dem Boot geholfen hast«, sagte sie höflich.
    »Danke, dass du uns das Boot gebracht hast«, rief Clay von der Veranda.
    »Okay« Lucas stieg in den Truck. »Bis bald mal.«
    Um zehn nach elf steuerte er den Wagen in die Zufahrt seines Hauses, betätigte den elektrischen Öffner für das Garagentor und stellte den Tahoe neben dem Porsche ab. Ein neuer Wagen, der Porsche; fast jedenfalls.
    Er war zufrieden mit seinem Tag, aber schläfrig, und mit
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