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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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auch keine Frau aus einer Sozialsiedlung. Sondern eine nette Frau der Mittelklasse, die etwas auf dem Herzen hatte. Mitte bis Ende zwanzig, blaue Augen mit einem hellen, topasfarbenen Glanz. Kaum eine Spur Make-up. Entweder versuchte sie es gar nicht, oder sie war schon verheiratet. Die Haut um ihre Augen wirkte leicht angespannt, als sie Karens musternden Blick bemerkte.
    »Ich bin Detective Inspector Pirie«, stellte diese sich vor und ließ es damit erst gar nicht zu einer Pattsituation zwischen zwei Frauen kommen, die einander abschätzten. »Karen Pirie.« Sie fragte sich, was die andere Frau wohl von ihr hielt – von einer kleinen, dicken Frau, die in einem zu engen Marks-und-Spencer-Kostüm steckte, mit mittelbraunem Haar, dem ein Besuch beim Friseur nicht geschadet hätte. Sie wäre vielleicht hübsch, wenn die Konturen ihrer Knochen unter der Fülle sichtbar wären. Wenn Karen sich gegenüber ihren Freundinnen so beschrieb, lachten die und sagten, sie sehe doch toll aus und leide nur unter mangelndem Selbstwertgefühl. Aber das glaubte sie nicht. Sie hatte eine recht gute Meinung von sich. Wenn sie jedoch in den Spiegel schaute, ließ sich das, was sie sah, nicht abstreiten. Aber schöne Augen hatte sie. Blau mit kleinen braunen Pünktchen. Ungewöhnlich.
    Die Frau schien beruhigt – entweder durch das, was sie sah, oder das, was sie hörte. »Gott sei Dank«, meinte sie. Der Akzent von Fife war deutlich, obwohl er sich entweder durch Bildung oder längere Abwesenheit etwas abgeschliffen hatte.
    »Wie bitte?«
    Die Frau lächelte und zeigte ihre kleinen, regelmäßigen Zähne, wie das Milchgebiss eines Kindes. »Das heißt, dass Sie mich ernst nehmen. Mich nicht mit irgendeiner jungen Kollegin abspeisen, die sonst den Tee kocht.«
    »Ich lasse meine jungen Kollegen ihre Zeit nicht damit verschwenden, Tee zu kochen«, erwiderte Karen trocken. »Ich war nur zufällig diejenige, die den Anruf angenommen hat.« Sie wandte sich halb zum Gehen, schaute dann zurück und sagte: »Kommen Sie bitte mit?«
    Karen führte die Frau einen Seitenkorridor entlang zu einem kleinen Zimmer. Ein hohes Fenster ging auf den Parkplatz und auf den Golfplatz hinaus mit seinem gleichmäßig künstlichen Grün in der Ferne. Vier mit dem grauen Tweed der Ämter bezogene Polsterstühle standen um einen runden Tisch, dessen helles Kirschbaumholz zwar poliert war, aber nur stumpf glänzte. Der einzige Hinweis auf den Zweck dieses Raums ergab sich aus der Reihe gerahmter Fotos an der Wand, alles Bilder von Polizisten im Einsatz. Jedes Mal, wenn sie das Zimmer nutzte, fragte sich Karen, warum die oberen Etagen nur Bilder ausgewählt hatten, die in den Medien meistens dann veröffentlicht wurden, wenn etwas sehr Schlimmes passiert war.
    Die Frau sah sich unsicher um, während Karen einen Stuhl herauszog und ihr ein Zeichen machte, Platz zu nehmen. »Im Fernsehen ist das anders«, sagte sie.
    »Nicht vieles im Polizeibezirk von Fife ist wie im Fernsehen«, entgegnete Karen und setzte sich in einem Winkel von neunzig Grad, nicht der Frau direkt gegenüber. Eine weniger herausfordernde Position brachte bei einer Zeugenbefragung gewöhnlich mehr.
    »Wo sind die Tonbandgeräte?« Die Frau ließ sich nieder, zog aber ihren Stuhl nicht näher an den Tisch heran und hielt ihre Tasche auf dem Schoß fest.
    Karen lächelte. »Sie verwechseln eine Zeugenbefragung mit dem Verhör eines Verdächtigen. Sie sind ja hier, um eine Meldung zu machen, nicht um wegen eines Verbrechens befragt zu werden. Sie dürfen also auf einem bequemen Stuhl sitzen und aus dem Fenster schauen.« Sie schlug ihren Block auf. »Ich glaube, Sie wollten jemanden als vermisst melden?«
    »Das stimmt. Sein Name ist …«
    »Einen Moment. Ich muss ein bisschen weiter vorn anfangen. Zunächst mal, wie heißen Sie?«
    »Michelle Gibson. So heiße ich, seit ich verheiratet bin. Mein Mädchenname ist Prentice. Aber alle nennen mich Misha.«
    »Gut, Misha. Ich brauche auch Ihre Adresse und Telefonnummer.«
    Misha ratterte alle Angaben herunter. »Das ist die Adresse meiner Mutter. Ich mache das sozusagen in ihrem Auftrag, wissen Sie?«
    Karen kannte den Namen des Dorfes, aber nicht den der Straße. Es hatte sich aus einem der kleinen Weiler entwickelt, die der dortige Grundbesitzer für seine Bergleute zu einer Zeit gebaut hatte, als ihm die Arbeiter noch genauso gehörten wie die Gruben selbst. Und es wurde schließlich zu einer Schlafstadt für Fremde, die weder eine Verbindung zu
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